Blicken wir auf die schöne Seite von Sturmtief Herwart. Sowie die orkanartigen Böen abgezogen sind, folgt auf den tief hängenden Wolken ein strahlend blauer Himmel. Tatsächlich werden wir am nächsten Morgen von der Sonne geweckt. Damit herrschen beste Voraussetzungen für ein gemütliches Mittagessen auf dem Fernsehturm. Nach einem ruhigen und entspannten Start in den Tag fahren wir also mit der Tram bis zum Warschauer Platz.
Dort wollen wir zunächst einen längeren Spaziergang unternehmen. So zumindest lautet unser Plan. Leider aber ist ein guter Teil der Schienen wegen Bauarbeiten gesperrt, sodass wir auf den Schienenersatzverkehr ausweichen müssen. Leider steht der Bus schon nach kurzer Fahrt im Stau. Zudem nimmt er mehrere Umwege, welche von der Tram-Linie abweichen, womit weitere Zeit verloren geht. Schließlich endet der Ersatzverkehr ein gutes Stück vom Warschauer Platz entfernt.
Dadurch wird unser Spaziergang etwas länger und erreichen wir die Oberbaumbrücke später als gedacht. Egal, denn schön ist, dass ich Lars hin und wieder auch mal mit einer Sehenswürdigkeit überraschen kann. Denn auch wenn die Brücke mit ihren roten Backsteintürmen die schönste Brücke Berlins ist
und regelmäßig Fernsehserien und Filmen als Kulisse dient, ist sie ihm sichtlich unbekannt. Wir genießen eine Weile den Blick über die Spree und beobachten Ausflugsboote, welche den niedrigen Durchgang der Brücke passieren.
Dann wechseln wir auf die Schattenseite der Brücke. Ganz in der Nähe beginnt die East Side Gallery. Auf einer Länge von 1.300 Metern stellt sie die wahrscheinlich längste Open-Air-Galerie der Welt dar. Bereits kurz nach der Wende haben Künstler aus 21 Ländern begonnen, die im ehemaligen Osten gelegene graue Mauer mit bunten Motiven zu verzieren.
Vorher war dies nur auf der Westberliner Seite der Mauer möglich. Über 100 großformatige Bilder stehen für die Freude des Mauerfalls und die Überwindung des eisernen Vorhangs in Europa. Sie sollen ein Ausdruck der Hoffnung, aber auch eine Mahnung an nachkommende Generationen sein.
Allerdings ließ sich der Erhalt der Mauer nur schwer mit dem neuen städtebaulichen Konzept vereinbaren. Denn unmittelbar hinter der Mauer planten Investoren Luxuswohnanlagen und Hotels. Die Künstlerinitiative East Side Gallery e. V., welche bereits seit 1996 für einen Erhalt der Mauerkunstwerke bemüht ist, kämpft unermüdlich gegen den Abriss.
Dennoch wurde für eine Baustraße über Nacht ein Teil der Mauer eingerissen. Der übrige Teil wird – so hoffen wir – weiterhin als Denkmal bestehen bleiben. So dürfte es mit der Zeit immer schwerer werden, dieses neue Wahrzeichen Berlins den Interessen einiger weniger zu opfern. Und doch hat der Verein immer wieder Arbeit mit den aufwendigen Reinigungen und Ausbesserungen von Schäden.
Leider ist die Mauer nur auf der Ostseite, also zur stark befahrenen Straße hin bemalt. Entlang der Westseite verläuft zwar eine schöne Promenade entlang der Spree. Doch die Idee für eine »West Side Gallery« löste beim East Side Gallery e. V. Entrüstung aus. Ihre Seite des Denkmals sollte seinen eigenen Wert bewahren.
Trotzdem entstanden ab 2013 auf der »anderen« Seite der Mauer ebenfalls großformatige Bilder. Auf ihnen sind Grenzanlagen aus aller Welt dargestellt, welche nun einen gelungenen Kontrast zu den farbenfrohen Kunstwerken der Ostseite bilden. Für Mauerspechte und Brückenbauer jedenfalls gibt es noch einiges zu tun.
Über zahlreiche Ecken und Kanten zog sich die politische Grenze einst durch das geteilte Berlin. Und mit jedem zusätzlichen Winkel verteuerte sich der Mauerbau. Um zumindest einen Teil der Kosten einzusparen, wurde das ein oder andere Eckchen ausgelassen. So geschah es auch am Bethaniendamm im Ortsteil Kreuzberg. Ein circa 350 Quadratmeter großes Stück DDR lag dadurch ungenutzt hinter der Mauer im Westen.
Das änderte sich, als der aus Mittelanatolien stammende Osman Kalin sich des Terrains annahm. In seiner anatolischen Sorglosigkeit bestellte er den Flecken Erde zuerst mit Tomaten, Zwiebeln, Kohl und Bohnen. Später entstand um einen Baum herum eine aus Sperrmüll zusammengebastelte einstöckige Laube. In dieser fühlte sich Osman Kalin während der Sommermonate wohler als in seiner stickigen Altstadtwohnung.
Die DDR-Behörden beobachteten das Geschehen mit Unbehagen von der Ferne. So lag die Vermutung nahe, der Gemüsebauer könne einen Fluchttunnel graben. Angeblich schaffte es die Angelegenheit bis auf die Tagesordnung des Zentralkomitees der SED. Doch die DDR-Oberen hatten Mitleid mit diesem armen Mann. Sie sahen in Kalin ein Opfer der kapitalistischen Verhältnisse, das offenbar auf den Verkauf von Gemüse angewiesen sei. Vom vermeintlichen Fluchthelfer stieg der Türke damit zu einem Aushängeschild der sozialistischen Propaganda auf.
Letztendlich duldeten sie die unrechtmäßige Nutzung ihres ausgemauerten Staatsgebietes. Tatsächlich hat das Baumhaus an der Mauer das Ende der DDR überdauert. Damit zählt Kalins Baumhaus heute zu den Sehenswürdigkeiten im Stadtteil Kreuzberg. Schade allerdings finden wir, dass sowohl der Garten als auch die Laube einen inzwischen unbelebten und schäbigen Eindruck machen. Das Sammelsurium an Sperrmüll ermutigt offenbar auch andere Bewohner des Kiez dazu, hier ihren Müll günstig los zu werden.