Der Große Tiergarten im gleichnamigen Ortsteil des Bezirks Berlin Mitte ist wie der Central Park in New York oder der Hyde Park in London die »grüne Lunge« der Großstadt. Mit einer Länge von drei und einer Breite von einem Kilometer bietet das ehemalige kurfürstliche Jagdgebiet reichlich Platz für Erholung und Freizeit mit Biergärten, Spiel- und Liegewiesen; aber auch den Partymeilen, welche sich insbesondere die Loveparade mehrere Jahre zu Nutze machte.
Auf der anderen Seite gilt der Große Tiergarten mit seinen Wäldern und guten Versteckmöglichkeiten auch immer wieder als Problemkiez. Drogen, Prostitution und sogar Mord gehören zu den traurigen Schlagzeilen über den Park. Armut, soziale Ausgrenzung und rasant steigende Mieten lassen die Zahl der Berliner Obdachlosen in die Höhe schnellen. Zu ihnen gesellen sich inzwischen auch viele Osteuropäer hinzu. Doch trotz der tagesaktuellen Berichterstattung der Berliner Morgenpost trauen wir uns in den Park. Zwei unschöne Vorkommnisse in so kurzer Zeit wären auch hier ein wirklich seltenes Pech.
Nahe am Potsdamer Platz beginnt der Tiergarten mit einer offenen Wiese. Hier treffen wir auf die »Global Stones«, dem »Stonehenge« von Berlin. Es ist ein Werk des Bildhauers Wolfgang Kraker. Für dieses reiste er jahrelang um die Welt, um charakteristische Steine mit einem Gewicht von etwa 30 Tonnen zu finden. Dabei musste es sich jeweils um zwei Brocken handeln, da einer der Geschwistersteine an der Ursprungsstelle verbleiben sollte, während der andere im Berliner Tiergarten ein neues Zuhause fand.
Leider hatte der Künstler seinem eigenen Werk die indigenen Völker der Herkunftsländer untergeordnet. So stammt der mit seiner roten Farbe auffälligste Stein aus dem venezolanischen Naturreservat Gran Sabana. Für die dort lebenden Pemón-Indianer sind diese beiden Steine heilig. Der so genannte »Kueka-Stein« hätte niemals wegtransportiert werden dürfen.
Wegen einer offiziellen Schenkungsurkunde der venezolanischen Regierung fühlt sich Kraker jedoch im Recht und wehrte sich lange Zeit gegen den Rücktransport. Erst 2013 wurde amtlich entschieden, dass der Stein an seinen ursprünglichen Standort zurückgebracht werden soll. Wenn schon nicht aus rechtlichen Gründen, so doch, um weiteren Streit zu vermeiden.
Dass wir den »Stein der Liebe« nach wie vor im Tiergarten Berlins sehen, ist sicherlich auch der aktuell prekären Lage Venezuelas geschuldet. Ziel des Kunstwerkes war einst, die weltweite Zusammengehörigkeit der Menschen zu symbolisieren. Jedem Stein wurde ein charakteristischer Name verliehen, wie eben »Liebe« für Amerika, »Erwachen« für Europa, »Hoffnung« für Afrika, »Vergebung« für Asien und »Frieden« für Australien. Eine schöne Idee eigentlich, auch wenn es bei der Umsetzung sicherlich mehr Fingerspitzengefühl bedurft hätte.
Auf dem Weg durch den Großen Tiergarten zur Siegessäule wird deutlich, wie weitläufig der Große Tiergarten ist. Doch genau in diesem weiten Laufen liegt der Ursprung einer uns bekannten Redewendung. Einst wurde der Platz der Siegessäule unter Kurfürst Friedrich III. als Jagdstern, einem Element der barocken Gartengestaltung, angelegt.
Bis Anfang des 19. Jahrhunderts standen auf dem »Großen Stern« genannten Platz Sandsteinstatuen aus der antiken Mythologie. Die Berliner nannten diese schlicht »Puppen«. Und an den Wochenenden war es schick, einen Spaziergang »bis in die Puppen« zu unternehmen. Von der räumlichen Ausdehnung übertrug sich der Sinn irgendwann in eine zeitliche, bedeutet aber nach wie vor »sehr lange« oder auch »sehr spät«.
Die mythischen Statuen mussten 1938/39 der Siegessäule weichen. Diese erinnert an die preußischen Kriege bzw. deutschen Einigungskriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich. Mit der Vision einer »Welthauptstadt Germania« im Kopf, wollte der Architekt Albert Speer der Ost-West-Achse der Stadt damit einen markanten Bezugspunkt setzen.
Gleichzeitig stockte er sie um 7,5 Meter auf. Und auch wenn es sich die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg anders wünschten, thront bis dato die 8,3 Meter hohe und 35 Tonnen schwere bronzene und vergoldete Siegesgöttin Viktoria auf der Säule. Anstatt der »Puppen«, haben die Berliner nun ihre »Goldelse«, wie sie die Göttin liebevoll bezeichnen.
Wer will, kann auf dem Weg zur Säule Kopf und Hals riskieren. Er braucht nur versuchen, den Kreisverkehr drum herum zu überqueren. Und ja, solche Leute gibt es, die sich später über den gefährlichen Zugang beschweren. Wir jedoch nutzen lieber eine der sicheren Unterführungen. Zum Glück ist der Andrang bei der Säule während unseres Besuchs überschaubar. Auch dies haben wir sicherlich ein Stück weit dem bevorstehenden Sturm zu verdanken, welcher uns jetzt schon um die Ohren pfeift und den Himmel in ein düsteres grau erscheinen lässt. Trotzdem besuchen wir das Museum im Sockel und steigen die 285 Stufen hinauf zur Aussichtsplattform. Gebeutelt von heftigen Böen stellen wir fest, die Goldelse hat einen wirklich schönen Blick über Berlin. Doch ist ihr exponierter Platz heute eher lausig kalt – mal abgesehen davon, dass mehrere besonders kräftige Windstöße den oberen Teil der Säule spürbar ins Schwanken bringen.
Sowie alle Aufnahmen im Kasten sind, wird es langsam Zeit für den Rückweg. Dieser führt uns an einem der drei Sowjetischen Ehrenmale vorbei. Sie rühmen und ehren den 80.000 Soldaten der Roten Armee, die in der Schlacht um Berlin gefallen waren. Das Ehrenmal im Großen Tiergarten wird von den beiden russischen Panzer flankiert, welche 1945 als erste Berlin erreicht haben sollen. Passend stehen sie an der Straße des 17. Juni, welche ihrerseits an den DDR-Aufstand von 1953 erinnert. Weniger ruhmreich wurde dieser friedlich begonnene Protest von russischen Panzern blutig niedergewalzt.
Nur wenige Meter vom Sowjetischen Ehrenmal entfernt blickt uns Ronald Reagan von einer Stahlplatte aus entgegen. An diesem Ort forderte der Präsident der Vereinigten Staaten am 12. Juni 1987 von Michail Gorbatschow: »Wenn sein Land aufrichtig nach Frieden strebe, solle er das Brandenburger Tor öffnen und die Berliner Mauer niederreißen«. Am Tag seiner Rede schien ein solches Szenario noch in weiter Ferne.
Doch zweieinhalb Jahre später, am 9. November 1989, war es soweit: in einer gleichermaßen verwirrenden wie auch überraschenden Ankündigung rief Schabowskie die sofortige Reisefreiheit für die Bürger der DDR aus. Stunden später gaben die Grenzer an den Schlagbäumen nach und strömten die Menschen aus dem Berliner Osten durch die Öffnungen der Mauer.
Nach unserem Ausflug zum Naturpark Schöneberger Südgelände wird das Wetter ungemütlich. Vereinzelte Windböen lassen keinen Zweifel: unaufhaltsam rückt Sturmtief Herwart der Hauptstadt auf die Pelle. Doch es bleibt genug Zeit für das restliche Tagesprogramm. So besuchen wir noch vor dem Tiergarten den Potsdamer Platz.
Der Platz gilt als einer der wichtigsten Verkehrsknoten Berlins. Das war er bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, weshalb hier 1924 eine der ersten Verkehrsampelanlagen des Kontinents entstand. 20 Jahre später zerstörte das Bombeninferno des Krieges den Potsdamer Platz jedoch vollständig.
Als »Dreiländereck« des britischen, amerikanischen und sowjetischen Sektors im geteilten Berlin war ein Wiederaufbau während der nächsten Jahrzehnten unmöglich. Einzig die Berliner Mauer mit ihrem Todesstreifen wurde ab 1961 als Neubau auf den jahrzehntelang brachliegenden Platz hochgezogen. Mit dem Fall der Mauer änderte sich die Situation schlagartig. Wo jahrelang Stillstand herrschte, ergriff plötzlich ein neuer Bauboom das Areal.
Für die nächsten Jahre verwandelte sich der Potsdamer Platz in eine gigantischen Baustelle und zugleich Touristenattraktion. So bin auch ich während meiner Bauzeichnerlehre mit Helm und Sicherheitsschuhen über die Baustelle des Sony Center gestiefelt. Da dies bis heute meine letzte Reise nach Berlin war, ist es für mich natürlich schön zu sehen, was sich aus dem damaligen Meer von Kränen entwickelt hat.
Glastürme, ein gigantisches Kino, Dunkin’ Donuts und Starbucks erinnern ein wenig an unsere New York-Städtereise aufkommen. Ein Ort zum Shoppen, Konsumieren und Filme schauen. Für ein längeres Verweilen jedoch wirkt im Herbst alles etwas zu kühl und nüchtern. So haben wir doch schnell genug von dem futuristischen Gebäude und besuchen stattdessen noch den Tiergarten, bevor der Regen einsetzt.