Unsere zweite Nacht in Berlin steht unter dem Eindruck von Sturmtief Herwart. Immer wieder scheppert und klappert es draußen auf der Dachterrasse vorm Zimmer. Eigentlich sollten wir uns heute Zeit beim Frühstück im Derag Living Hotel lassen. Immerhin warnt dort die kleine Hotelzeitung vor dem Orkantief:
»Wer nicht unbedingt raus muss, sollte zu Hause bleiben.« Da wir die Reichstagskuppel besichtigen wollen, müssen wir uns jedoch der Gefahr aussetzen. Denn der Zugang in das Reichstagsgebäude ist zwar umsonst, aber nur mit Voranmeldung und zu einer festen, auf unserer Einladung stehenden Zeit möglich.
Wir starten also einiges früher als geplant, immer auf der Hut vor herabfallenden Ästen und in der guten Hoffnung, dass der Nahverkehr trotz Sturm funktioniert. Tatsächlich ist auf die Tram Verlass. Erstaunt sind wir jedoch, dass wirklich kaum jemand in der Stadt unterwegs ist.
Nach unserem Umstieg beim Hackescher Markt dauert es noch zwei Stationen, bis sich das Geheimnis lüftet und wir wissen, wo die Leute alle stecken. Am Hauptbahnhof nämlich. Bereits beim Aussteigen aus der S-Bahn eilt uns ein Mann entgegen, der stinkig von sich gibt: »Auch ihr kommt hier nicht weiter!« Na ja, das gilt sicherlich für die meisten hier. Denn sämtliche Züge fallen bis auf unbestimmte Zeit aus.
Noch vor unseren ersten Programmpunkt staunen wir wenige Schritte weiter bereits das zweite Mal an diesem herrlichen Orkanmorgen: Diszipliniert reihen sich die Menschen in endlos wirkenden Schlangen in der Bahnhofshalle ein. Neben den Infoschaltern verkündet eine Bahnangestellte über ihr Megaphon, dass bis auf Weiteres alle Zugverbindungen gestrichen sind, und bittet um Geduld.
Wer lesen kann, erhält dieselbe Information an den Anzeigetafeln. Doch den Leuten ist es eins. Sie legen eine Engelsgeduld an den Tag und harren der nicht zu ändernden Umstände. Wir indes sind froh, dass wir die Halle nur durchqueren müssen, eh wir schnurstracks in einen ganz schön ungemütlichen Regenschauer hineineilen.
Anstatt am Bundeskanzleramt vorbei zu bummeln, flitzen wir nun unters Vordach des Paul-Löbe-Hauses. Leider treibt der Sturm den Regen dort direkt hinein. Wir rennen also gleich weiter zu den Anmeldecontainern vor dem Reichstagsgebäude. Obwohl wir etwas zu früh sind, dürfen wir mit dem nächsten Rutsch bereits zur Sicherheitskontrolle. Auch hier herrscht wetterbedingt deutlich weniger Betrieb als an normalen Tagen.
Im Hauptgebäude werden wir an mehreren Schleusern vorbei zum Lift nach oben geleitet. Dort gibt es für jeden einen Audio-Guide, sodass sich die Gruppen bald auflösen. Prima, denn wir wollen in Ruhe die 230 Meter lange spiralförmige Rampe hinauf schlendern. Neben den abwechselnden Infos über den Auto-Guide haben wir trotz des Regens einige schöne Blicke über die Stadt.
Schade nur, dass uns ständig Wasser auf den Kopf tropft. Hie und da bilden sich Pfützen auf dem Boden und laufen dünne Rinnsale entlang der Fensterrahmen. Ist unser Bundestag nicht ganz dicht? Das mag schon sein, aber für den unvoreingenommenen Betrachter macht es den Eindruck, als handele es sich um winzige Baumängel.
Weiter oben in der Reichstagskuppel wird auch dieses kleine Geheimnis gelüftet. Eine riesige Öffnung im Dach sorgt für eine optimale Belüftung des Plenarsaals. Über einen mittigen Kegel wird das Regenwasser aufgefangen. In diesem Bauteil ist die gesamte Haustechnik des Bundestags integriert. Verkleidet ist es mit 360 Spiegel.
Diese reflektieren natürliches Tageslicht in den Plenarsaal, ohne zu blenden. Eine wirklich faszinierende Architektur, die an Tagen ohne Orkan sicherlich gut funktioniert. Und um das bisschen Regenwasser, was »Herwart« heute am Trichter vorbei treibt, kümmert sich später das Reinigungspersonal.