Vom Freudenberg Monte do Gozo führt der Weg bergab an der weitläufigen Ferienanlage Ciudad De Vacaciones Monte Do Gozo vorbei an die N-634. Diese führt uns zuerst auf einer Brücke über die vierspurige AP-9, dann bei einem Kreisel über die ebenfalls vierspurige SC-20 an den als Parkplatz und Rasenfläche genutzten Praza da Concordia.
Die breiten Straßen sind ein Grund, warum viele Pilger oben auf dem Monte do Gozo in den Bus umsteigen und sich ins Zentrum von Santiago de Compostela fahren lassen. Ein zweiter Grund sind die Wege in der Stadt. Zwar sind es vom Praza de Concordia nur 3 km bis zum Ziel. Der harte Fußweg aber setzt den Füßen ganz schön zu.
So sind wir echt froh, als wir von der N-634 in die ruhigere Rúa do Valiño abzweigen können und weiter geradeaus über die Rúa das Fontiñas und - über einen Kreisel - die Rúa dos Concheiros endlich die Altstadt von Santiago de Compostela erreichen. Auf den letzten 1000 Metern wechseln sich dann kleine (Andenken) Läden mit Restaurants, Hotels und einfacheren Herbergen ab.
Nachdem wir kurz nacheinander drei kleinere Kirchen passiert haben, gelangen wir schließlich an die Nordseite der Kathedrale von Santiago de Compostela. Von dort sind es nur noch wenige Schritte durch den Schlossbogen (Arco do paso) zum Ziel unserer Reise. Als wir auf dem Platz vor der Hauptfassade ankommen, liegen über 100 km in sechs Etappen hinter uns.
Rechnen wir unsere Spaziergänge in den Etappenorten hinzu, dürften es sogar um die 120 km sein. Sei es drum, wir sind stolz, die gesamte Strecke von Lugo bis hierher ohne Pannen oder Blasen an den Füßen aus eigener Kraft gemeistert zu haben, während wir die Kathedrale und das nie endende Kommen und Gehen auf dem Platz davor auf uns wirken lassen.
In den einzelnen Etappenorten hatten wir noch bedauert, dass es kaum Möglichkeiten für einen schönen Stadtbummel gibt und man auch sonst kaum etwas unternehmen kann. Es stellte sich damit mehrmals die Frage: was nun? Ganz anders sieht es in der Altstadt von Santiago de Compostela aus.
So finden wir an praktisch jeder Ecke Läden, die Souvenirs und Devotionalien anbieten. Wer eine Ansichtskarte verschicken, sich mit einem »Santiago-de-Compostela-T-Shirt« kleiden möchte oder sich mit Kruzifixen, Heiligenbildnisse, Ikonen, Medaillen oder einem neuen Rosenkranz eindecken will, hier wird er fündig.
Dabei nimmt der Tourismus in dem berühmten Wallfahrtsort zuweilen auch kitschige Züge an. Genau genommen ist es eine Bimmelbahn, wie man sie aus den Freizeitparks kennt. Tatsächlich verkehren andere Exemplare des »Muson River 1894« in vielen europäischen Orten als Sightseeing-Bimmelbahn.
Während der »Muson River 1894« auf dem Praza do Obradorio auf fußfaule Fahrgäste wartet, ist es auch hier nicht weit bis zum Kontrastprogramm: Das Luxushotel Hostal los Reyes Católicos bietet an der Nordseite des Platzes täglich zehn Pilgern ein kostenloses Mahl an.
Berechtigt ist jeder, der innerhalb drei Tage nach Ausstellung der Compostela (Pilgerurkunde) rechtzeitig zu den Essenszeiten um 9, 12 oder 18 Uhr am Personaleingang des Restaurants erscheint. Diesen erreicht man über die Rúa das Carretas bzw. durch das grüne Garagentor 30 Meter unterhalb des Haupteingangs. Wer zu den ersten zehn zählt, wird zum Dienstraum der Belegschaft geführt, wo er abseits der zahlenden Gäste ein einfaches, aber reichhaltiges Mahl serviert bekommt.
Wie früh man dran sein muss, wissen wir allerdings nicht. So versuchen Annettes Ma und ihre Freundin zwar am nächsten Morgen ihr Glück. Auf dem Weg zum Eingang rufen ihnen jedoch ein paar ältere Frauen empört zu, dass sie schon zu zehnt seien. Deutsche mit vernünftigen Klamotten werden hier gar nicht gerne gesehen. Zuvor aber müssen wir erst einmal unsere Compostela holen.
Es gibt viele Gründe, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Stehen für die einen religiöse Motive im Vordergrund, nutzen die anderen den Weg, um den Kopf frei zu bekommen oder wieder zu sich selbst zu finden. Im etwas versteckt gelegenen, aber gut beschilderten Büro neben der Kathedrale geben die Mitarbeiter daher neben der religiösen auch eine kulturelle Compostela aus.
Die Compostela beurkundet den Pilgern das erfolgreiche Ende ihrer Wallfahrt und den Besuch einer Pilgermesse in der Kathedrale von Santiago de Compostela. Um die Compostela zu bekommen, reicht es, die letzten 100 km zu Fuß oder die letzten 200 km mit dem Rad oder Pferd zurückgelegt zu haben, wobei für jeden Tag zwei Stempel im Pilgerausweis benötigt werden.
Früher berechtigte die Urkunde einen dazu, sich drei Tage kostenlos im Hospital de los Reyes Católicos, einer im 16. Jahrhundert gebauten Herberge der königlichen Stiftung, von den Strapazen der Reise zu erholen. Diese Herberge wurde später zu einem Krankenhaus und 1954 zu dem bereits erwähnten Luxushotel umgebaut. Weil die bis heute beibehaltene Essensausgabe einer Lotterie gleicht, stoßen wir auf den Erhalt unserer Compostela im Bierzo Enxebre an.
Das Weinlokal Bierzo Enxebre befindet sich in der Rúa la Troia und ist nach den vielen Eindrücken in der Stadt und dem Erhalt der Compostela einer der schönsten Orte, um den Abend in gemütlicher Runde ausklingen zu lassen.
Im Gegensatz zu den kleinen Restaurants und einfachen Küchen in den Herbergen auf dem Weg bietet es seinen Gästen neben einer Fülle von Vorspeisen einige Fleisch- (Kalb, Schwein, Lamm) und Fischgerichte sowie »Postres« an.
Damit sollte jeder etwas finden, das ihm schmeckt und zugleich merken, dass die Zeit der Entbehrungen beendet ist. Nun gut, auch wenn wir selbst nicht wirklich unter karger Kost gelitten hatten und auch das Wetter über die gesamte Distanz mitgespielt hat, so soll uns das doch nicht daran hindern, auf das Erreichen des Ziels anzustoßen.
Untrennbar mit der Wallfahrt nach Santiago de Compostela verbunden ist natürlich die Teilnahme an der Pilgermesse. Da täglich mehrere hundert, teils auch tausende Pilger Santiago erreichen, füllt sich die Kathedrale oft sehr schnell.
Annettes Ma und ihre Freundin lassen daher den Marktbesuch bei Abastos aus, um mit Sicherheit einen Platz zu bekommen. Wir selbst müssen hingegen stehen. Das ist okay, da auch die Stehplätze eine gute Sicht in den vorderen Bereich der Kirche ermöglichen.
Einzig störend sind die reinen Sightseeing-Gruppen, welche eine nach der anderen durch die Kirche geführt werden und nur selten leise sind. So bittet eine Nonne mit engelhafter Singstimme immer wieder um »Silencio«, eh die eigentliche Messe beginnt.
Als ein Bestandteil der Messe werden die Namen all jener Wallfahrer vorgelesen, welche zuvor die Compostela erhalten haben. Den eigenen aus der großen Zahl der Pilger herauszuhören, ist damit reine Glückssache.
Für viele Pilger unbestrittener Höhepunkt der Messe ist das Schwenken des Botafumeiro, ein 54 kg schweres Weihrauchfass, dem von acht Tiraboleiros das Fliegen beigebracht wird. Dabei beschreibt der Botafumeiro einen Bogen von 65 m Länge. Ob das immer gut geht? Nein, es ist mindestens viermal zu Unfällen gekommen.
So berichtete Katharina von Aragon bei einer ihrer Reisen im Jahr 1499, dass sich das Weihrauchfass bei ihrem Besuch löste und durch ein Fenster im Südportal und auf die Plaza de las Platerías stürzte. Weitere Zwischenfälle ereigneten sich 1622, 1925 und 1937, wobei bislang aber keine Menschen zu schaden kamen.
Kathedrale von Santiago de Compostela
Entstanden ist die Tradition im Mittelalter. Damals soll der strenge Geruch einer großen Pilgergruppe das übermäßige Weihrauchschwenken notwendig gemacht haben. Sonst wäre der feierliche Rahmen der Pilgermesse am Gestank der Wallfahrer erstickt. Ihnen haben wir zu verdanken, dass das Fass auch heute noch mit einer Geschwindigkeit von 65 km/h durch das Querschiff der Kathedrale saust.
Eindrücke von der Pilgermesse in der Kathedrale von Santiago de Compostela. Besonderheit des Gottesdienstes ist das Schwenken des Botaufumeiro, dem 54 kg schweren Weihrauchkessel.
Weil die benötigte Kohle, der viele Weihrauch und der Verschleiß der schweren Seile hohe Kosten verursachen, wird der Botafumeiro allerdings nur an wichtigen Feiertagen und zu bestimmten Anlässen geschwenkt. Wer das Fass unbedingt Fliegen sehen will, kann den Botafumeiro jedoch gegen eine entsprechende Gebühr buchen. Zum Teil übernehmen auch die Stadt, die Handelskammer und die Hotels die Kosten.