Nach dem Abstecher ins Fairmont Chateau stehen wir bald wieder am Ufer vom Lake Louis. Bei der nächsten Weggabelung müssen wir uns entscheiden: links ginge es über den einfacheren Lakeshore Trail direkt zur Plain of Six Glaciers. Da sich bereits einige Wanderer und Spaziergänger dorthin auf den Weg machen, halten wir uns hingegen rechts. Somit wechseln wir auf den Lake Agnes Trail. Auf diesem tauchen wir nach wenigen Schritten in den Wald ein. Auch wenn es während unserer Wanderung ruhig auf dem Trail zugeht, wählen deutlich mehr Wanderer den Lake Agnes als die Ebene der Sechs Gletscher als Ziel. Der Grund liegt in der deutlich kürzeren Entfernung. Diese lässt allerdings nicht erkennen, wie steil der Aufstieg zum Lake Agnes ist.
Tatsächlich verjüngt sich der im Seenähe noch bequeme Schotterweg bald zu einem Trail. Und dieser zieht wenige Schritte weiter deutlich an. Würden wir es nicht in den Beinen spüren, könnte wir es auch an den Spaziergängern erkennen. Nachdem viele zunächst flott gestartet waren, drosseln sie ihr Tempo auf dem nächsten Abschnitt drastisch. Andere kommen nur noch im Schneckentempo vorwärts. Andererseits öffnet sich der Wald bald, womit wir eine schöne Sicht auf den Mount Fairview bekommen. Gleich danach erreichen wir auch schon den Lake Mirrow. Den Name des kleinen Sees ist Programm. So spiegelt sich im Lake Mirrow normalerweise der Big Beehive. Normal heißt, wenn genug Wasser im See ist. Bei unserer Tour am Ende des Sommers beziehungsweise nach dem ersten Schnee des Jahres müssen wir hingegen ein gutes Stück weit hinunter an den Seegrund stapfen. Erst dort eröffnet sich uns die versprochene Spiegelung. Voller Tatendrang kündige ich Annette an, dass wir nachher dort oben stehen werden. Während ich strahlend in die Höhe zum Big Beehive deute, zeigt sie mir den Vogel: »Das kannst Du gerne ohne mich machen.«
Ohne weiter darauf einzugehen, passieren wir als Nächstes eine im Wald gelegene Pferdestation. Offensichtlich zählen wir nicht zur Zielgruppe. So grüßen uns die Männer bei der Station zwar freundlich, machen aber keine Anstalten, ihre Dienste anzubieten. Das müssen sie auch nicht. Denn schon zwei Minuten weiter kommen wir zu einen kleinen, hübschen Wasserfall direkt unterhalb vom Lake Agnes. Gleich danach haben wir das Seeufer erreicht. Was sollen wir sagen? Sowie wir vom Wald auf die offene Fläche wechseln, pfeift uns ein eisiger Wind um die Ohren. So verweilen wir nur einen Augenblick am Ufer, eh wir uns ins Lake Agnes Teahouse flüchten. Zumindest versuchen wir es. Leider aber scheint der eisige Wind jeden zur Idee zu animieren. So setzen wir nur einen Schritt in die gerammelt volle Hütte, eh wir uns umentscheiden und die Wanderung fortsetzen.
Vom Lake Agnes führen zwei Wege in Richtung der Plain of Six Glaciers Trail und dem Big Beehive. Die Variante links vom Teahouse führt wieder ein gutes Stück bergab in Richtung Lake Louise. Um möglichst auf der Höhe zu bleiben, wählen wir die Variante um den See herum. Warum es keinen geschlossenen Weg einmal um den kompletten See gibt, ist für uns im Bereich des Abflusses nicht zu erkennen. Zumindest aber kommen wir auf dem nahezu ebenen Weg gut vorwärts. Dazu entschädigt uns eine herrliche Aussicht für den anhaltend frostigen Wind. Immer wieder halten wir inne und lassen den Blick über die Gebirgskette vor uns schweifen. Der Devils Thumb (2458 m), der Mount White (2983 m) und der Mount Nitblock (2976 m) bilden hier eine imposante Kulisse.
Nachdem wir die Südwestspitze des Lake Agnes im Bereich eines Geröllfeldes passiert haben, wird allmählich deutlich, warum es keinen geschlossenen Seerundweg gibt. Auf dieser südöstlichen Seite fällt das Gelände deutlich steiler zum Lake Agnes hin ab. Ein Wanderweg ließe sich hier nur mit großen Eingriffen in die Natur realisieren. Dafür gewinnen wir fortan von einer Serpentine zur Nächsten zusehends an Höhe.
Als Annette auf der nun gegenüberliegenden Seite Schneeschafe entdeckt, unterbreche auch ich gerne den Aufstieg. Es ist einfach toll, die extrem an das raue Gebirgsklima und schwer zugänglichen Berghänge angepassten Tiere zu beobachten. Apropos Schnee, als wir am Tag zuvor am Moraine Lake unterwegs waren, hat es unterhalb vom Big Beehive, dem Großen Bienenstock, offenbar nicht geregnet. Wo sonst sollten die weißen Flecken herkommen, die im oberen Bereich des Passes den nahen Winter ankündigen? Nach zehn Kehren haben wir die Anhöhe zwischen den beiden Seen geschafft. Als Gentleman fiele es mir natürlich nicht im Traum ein, meine Frau bis ganz hoch auf den Big Beehive zu treiben. Nach meinem Angebot, mich zu beeilen, muss ich mich aber tatsächlich sputen. Denn die Passhöhe befindet sich auf 2260 Meter über dem Meer. Der stark abgeflachte Gipfel vom Big Beehive lediglich zehn Meter darüber. Andererseits wäre das eine schöne Erklärung für die Bezeichnung als Bienenstock. Oder war es doch eher eine Tarantel?
Tatsächlich gleicht das letzte kurze Stück zum Big Beehive mehr einem Spaziergang als einer Wanderung. Dort angekommen öffnet sich uns eine traumhafte Sicht auf den milchig-blauen Lake Louise. Darüber hinweg sehen wir zu den gegenüberliegenden Bergen sowie über das Tal und den Highway hinweg zum Skigebiet mit dem Whitehorn Mountain (links) und Lipalian Mountain (rechts). Außer der Aussicht erwartet einen auf dem Gipfelplateau ein kleiner Pavillon. Bei zunehmend sonnigem Wetter nutzen wir diesen gerne, um die am Lake Agnes ausgefallene Pause nachzuholen.