Favela kommt aus dem Portugiesischen und bedeutet so viel wie Armen- oder Elendsviertel. Es bezeichnet eigentlich die wild gewachsenen Siedlungen in den Randlagen der großen Städte Brasiliens. Doch auch in Kolumbien ist es Ziel vieler Menschen, sich ein neues und besseres Leben in den Großstädten aufzubauen. Sie versuchen, der Armut zu entfliehen und sind auf der Suche nach Arbeit. Gegenwärtig sind es allerdings mehr Venezolaner als Kolumbianer, die ihre Zelte in den Favelas Medellíns neu aufschlagen.
Wieder bei der Metro- und Gondelstation San Javier ankommend, hoffen wir, die gesamte Gruppe anzutreffen. Cilfredo verwechselt gerne letzte und nächste. Die Aussprache scheint für spanische Zungen recht schwierig zu sein. Doch es sind alle da, keiner ist frühzeitig ausgestiegen. Jetzt brauchen wir nur noch einen kleinen Bus, der uns zur Favela der Comuna 13 im Stadtteil Veinte de Julio, also zum 20. Juli bringt.
Unser Streifzug beginnt in der Favela der Comuna 13 San Javier. Das bunte Stadtviertel ist eine von 16 Comunas in der Millionenstadt. Zugleich bildet sie rund 43,5 Einwohner pro Quadratkilometer das am dichtesten besiedelte Gebiet von Medellín.
Und das, obwohl die hier steilen Berghänge hauptsächlich mit ein- bis dreistöckigen Gebäuden bebaut sind. Wer nun glaubt, er würde hier durch Gassen mit Wellblechhütten ziehen, wird indes eines Besseren belehrt. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Breakdance und Graffiti in der Comuna 13
Heute finden wir farbenfrohe Häuser aus Ziegelsteinen, welche die Hügel erklimmen. Es ist ruhig und beschaulich. Lediglich ein kleiner Van unterbricht die beinahe dörflich wirkende Idylle, als er die steile Straße nach oben hustet, nur um seiner touristischen Fracht eine weniger anstrengende Ausgangslage zu ermöglichen, als wir sie weiter unten mit dem Linienbus hatten. Bei einer Wendeplatte endet die Fahrt. Wer mehr sehen will, muss wohl oder übel aussteigen und sich nun aus eigener Kraft weiter hinauf arbeiten.
Kinder spielen auf den Straßen und Treppen zwischen den Häusern. Frauen stehen zum Klatsch und Tratsch vor den Türen und die Oma beäugt neugierig die Touristen, welche an ihr vorbei ziehen. Das Idyll war nicht immer so. Zur Zeit Escobars machte die »Comuna n.º 13 San Javier« vor allem durch Presseberichte über das Medellín-Kartell von sich Reden.
Damals wären auch keine Touristen hierher gekommen. In den 1980er Jahren standen blutige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden auf der Tagesordnung. Für Außenstehende unsichtbare Grenzen trennten die rivalisierenden Gruppen voneinander. Ein versehentliches Übertreten einer solchen Grenze konnte tödlich enden.
1991 wurden knapp 7000 Personen in der Stadt getötet. Der Drogenkönig Pablo Escobar schürte mit seinem Terrorregime einen Bürgerkrieg zwischen Sicherheitskräften, rechten Paramilitärs und der linken Farc-Guerilla. Am 16. und 17. Oktober 2002 startete in der Comuna 13 schließlich die militärischen Operation Orión. Die Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte, Nationalpolizei, Luftkräfte und paramilitärische Gruppen machten den Guerillas, der Farc und den bewaffneten Parteikommandos GAP den Garaus. Allerdings gingen sie dabei ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung vor. Die von der Polizei offiziell genannte Zahl an Verstorbenen wird weitgehend in Frage gestellt. Tatsächlich gehen Schätzungen von zehnmal so vielen Opfern aus. Und noch immer versuchen die Angehörigen von verschwundenen Personen, diese im Massengrab La Escombrera zu finden bzw. zu identifizieren.
Sowie wir die Stufen oberhalb der Wendeplatte emporsteigen, erkennen wir, weshalb sich hier die reinste Touristen-Favela gebildet hat. Hier wurden hochmoderne Rolltreppen in den Hang installiert. Sie sollen dazu beitragen, den sozialen Frieden in der Comuna 13 zu gewährleisten. Da Arbeitslosigkeit und große Klassenunterschiede eine Ursache für die immer wieder aufflammenden sozialen Spannungen waren, gab man den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln.
Sie durften Geschäfte in ihren Häusern eröffnen und damit Geld verdienen. Allerdings trennten genau 350 Stufen die oberste Häuserreihe von den untersten. Wer dort hinauf wollte, brauchte ungefähr eine halbe Stunde. Mit den Rolltreppen jedoch lässt sich der Höhenunterschied bequem in vier bis fünf Minuten überwinden. Das nützt den Geschäften und auch den alten Menschen, die hier wohnen bleiben können.
Das Mobilitätsprojekt hat der Stadt schon viele Preise eingebracht. Und anstatt über Guerillas und Menschenhändler berichtet die Presse heute von netten Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Souvenirs und Restaurants bestreiten. Worüber heute außerdem berichtet wird, sind die Graffiti, welche die Häuser schmücken. Ein Graffito bei den Rolltreppen zeigt, wie grau und trist die Comuna 13 einst war und zu welch einem bunten Idyll sie sich entwickelt hat. Die bunten Bilder sind einzigartig schön und begleiten den Besucher während der gesamten Tour.
Wir treffen einige andere, meist kleine Touristengruppen auf den verschiedenen Terrassen der Favela. Es gibt inzwischen viele Veranstalter, die Touren anbieten. So kann es passieren, dass man hier Mitgliedern der Familie Escobar begegnet. Denn auch sie nutzten die noch junge Möglichkeit, Einnahmen zu erwirtschaften. Unser Local-Guide jedoch ist in der Favela aufgewachsen. Auch er musste sich einst im Haus verstecken und erfreut sich nun an seinem viel bunteren Leben in der Comuna 13.