Heute geht es zu den Silletas, den Stuhlträgern mit ihrem traditionellen Blumenschmuck. Den Abend zuvor hatte es uns ganz schön verregnet. Eigentlich wollten wir ja nochmals in die Havanna-Bar gehen, Salsa und Cha-Cha-Cha tanzen. Doch schon als wir bei unserer Metrostation ausgestiegen waren, hatte es stark genug geschüttet, dass sich einige unserer Gruppe lieber ein Taxi zum Hotel genommen hatten.
Nur wenige waren so optimistisch (oder unerschrocken?) wie wir und sind bis zum Hotel durch den Regen gelatscht. Auch in unserem Feinschmecker-Restaurant La Bronca war der Garten geschlossen, sodass wir drinnen saßen. Ist auch schön. Bis in die Nacht entluden sich immer wieder heftige Schauer über Medillín.
Zu unserem Leidwesen befindet sich unser Zimmer direkt über dem Glasdach des Hotelrestaurants. So prasselt es ständig vor unserem Fenster. Am frühen Morgen jedoch hat sich das Wetter beruhigt und reißt hie und da sogar die Wolkendecke auf. Es kann uns eins sein. Die Koffer sind gepackt und bereit für die Weiterreise nach Cartagena ans Meer.
Bis der Flieger geht, bleibt uns jedoch noch etwas Zeit für einen Ausflug bei Medellín. Denn den Beinamen »Stadt des ewigen Frühlings« trägt die Metropole neben dem Klima auch dank einer alten Tradition, dem Anbau der Blumenpracht für die »Silletas«, den Stuhlträgern.
Santa Elena, in den Bergen westlich Medellíns, ist der Geburtsort der Silletas. Diese entstammen einer sehr alten Tradition. Die Gegend war immer reich an Salz und Gold. Für die Indianer symbolisierte das Salz den Mond und das Gold die Sonne.
So hatte beides einen bestimmten Wert, mit dem die Indianerstämme handeln konnten. Sie brachten beides in Tragekörben auf dem Rücken zu anderen Stämmen, um es dort gegen Obst, Gemüse, Korbwaren und Keramik zu tauschen.
Schließlich kamen die Europäer. Hoch zu Ross flößten sie den Indianern großen Respekt ein und wurden für Zentauren gehalten. Krankheiten waren eine der Lasten, welche die berittenen Gäste mitbrachten. Sie selbst waren die andere. Die Bergvölker waren es ja gewohnt, schwere Lasten die steilen Wege hinauf zu tragen.
Doch anstelle von Salz und Gold wurden nun die Kolonialherren mit Hilfe eines Lastenstuhls durch die Landschaft geschleppt. Die Bequemlichkeit und Arroganz der neuen Herren begründete die Tradition der Stuhlträger.
Ziel unseres Ausflugs ist eine Familie dieser Blumenbauern. Denn heute werden natürlich schon lange keine Kolonialherren und auch keine Touristen mit Stühlen über die Berge geschleppt. Stattdessen haben die Bauern die ausrangierten Stühle in Blumengestelle umgebaut und tragen seither ihre Pflanzen zu Märkten, Kirchen und Friedhöfen.
Die kühlere Berglage und die reich an Nährstoffen versetzten Böden ermöglichen den Bauern außerdem, eine Fülle an tropischen und lokalen Blumensorten anzubauen. Diese werden dann über den Großmarkt auf die internationalen Märkte im Ausland exportiert.
Unsere Bauernfamilie wohnt gut fünf Kilometer außerhalb von Santa Elena, in einem der Veredas, den Bergdörfern. Inmitten dieser herrlichen Landschaft und natürlich auch benachbarten Bauernfamilien gibt es hier reichlich Platz für die Blumenfelder.
Gastfreundlich wie die Kolumbianer sind, werden wir zuerst ins Haus gebeten und mit heißem Tee willkommen geheißen. Dass es hier oben auch empfindlich kühl werden kann, zeigt der offene Kamin im Wohnzimmer. Von unserer Familie in Bogota wissen wir ja, dass in kolumbianischen Wohnungen normalerweise nicht geheizt wird.
Der große Stolz der Blumenbauern ist das jährliche Blumenfestival, die Feria de Las Flores in Medellín. Das Fest zählt zu den berühmtesten Veranstaltungen Kolumbiens. Und auch der Staat unterstützt die Bauern finanziell für die Brauchtumspflege. Unser Bauer zeigt uns, wie ein einfacher Silleta mit Blumen bestückt wird. Geschickt versieht er das Holzgestell mit Callas, Fackelblumen, Chrysanthemen und einigem mehr. Hauptsache, das Gesteck wird bunt. Wer will, darf das fertige Gestell anschließend probeweise mit Schulter- oder Stirnriemen ein paar Schritte weit durch die Gegend schleppen, nur um zu sehen, was für ein Gewicht sich die Bauern damit aufhalsen.
1957 fand das erste Stuhlträger-Fest in Medellín statt. Inzwischen hat es sich weiterentwickelt. Neben den traditionellen Stuhlgestellen werden heute auch große Blumenräder präsentiert. Mit Naturmaterialien werden kunstvolle Bilder, geschmückt mit bunten Blumen, auf diese Räder gezaubert.
Unser Bauer hat noch einige davon auf seinem Grundstück stehen. Für das schönste Rad wird ein sattes Preisgeld ausgelobt. Somit ist sichergestellt, dass sich alle Familien nach Kräften ins Zeug legen.
Natürlich kommen die meisten Touristen zum Blumenfestival nach Medellín. Doch in den Veredas haben sich die Besuche von Touristen auch außerhalb des Festivals längst zu einer neuen und wichtigen Einnahmequelle entwickelt.
Und auch darauf ist unser Bauer stolz. Es stört ihn, dass viele Pablo Escobar und seine Machenschaften als Erstes mit Medellín verbinden und betont: »Die Tradition der Stuhlträger, das ist das eigentliche Medellín.«