»Weißelt, ihr Jungfraun, weißelt das Haus eurer Väter, auf dass wir ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra! – Wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht! Nämlich seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut. Das hat sich herausgestellt, nämlich seine Kirche ist auch nur aus Erde gemacht, und die Erde ist rot. Und wenn ein Platzregen kommt, das saut euch jedesmal die Tünche herab.
Als hätte man eine Sau drauf geschlachtet, eure schneeweiße Tünche von eurer schneeweißen Kirche.« Irgendwie hat das Theaterstück von Max Frisch als Schullektüre einen bleibenden Eindruck bei Lars hinterlassen. Immer dann, wenn Andorra bei unseren Reiseplanungen zur Sprache kam, zitierte er Teile dieser Zeilen aus dem bekannten Schweizer Drama »Andorra«.
Die Neugierde lockt uns schon längst in das kleine, eher unbekannte Land, versteckt, inmitten der Pyrenäen. Wie leben die Menschen dort? Und von was leben die Menschen dort? Vom Ackerbau? Auf einer durchschnittlichen Höhe von 1996 Meter über dem Meer erscheint dies unwahrscheinlich. Weißeln sie noch immer ihre Häuser?
Wir hatten keine Ahnung. Und die eher mühsame Anreise ließ einen Besuch immer wieder in die Ferne rücken. Doch endlich ist es soweit. Denn schafft man es erst einmal in die Midi-Pyrénées und das Tal der Ariège, dann liegt Andorra auf einmal in greifbarer Nähe.
Gut zwei Stunden und zwanzig Minuten soll die Fahrt von Mirepoix aus dauern. Da können wir noch gemütlich frühstücken, bevor wir aufbrechen. Doch was ist das? Kaum sind wir unterwegs, da meldet unser Navi eine gesperrte Straße, die unsere Tour um anderthalb Stunden verlängern soll.
Schade eigentlich, denn das kollidiert mit unserer ersten kurzen Wanderung. Tatsächlich sehen wir ab Foix Hinweise, nach denen ein Tunnel ab heute für längere Zeit gesperrt sein soll. Das passt ja prima. Trotzdem halten wir den Kurs in Richtung der Pyrenäen bei.
Tatsächlich kommen wir gut vorwärts. Denn bei gesperrten Straßen und vermeintlichen Umwegen verzichten auch die Franzosen lieber auf eine Fahrt in die Pyrenäenstadt. Die Route führt uns durch hübsche Bergdörfer, einen touristischen Thermalkurort mit Casino sowie durch eine immer gewaltiger werdende Berglandschaft. Irgendwann erreichen wir den Abzweig nach Andorra, der laut unserem Navi gesperrt sein soll. Hier sollten wir auf die Straße nach Barcelona abzweigen.
So weit sind wir also schon? Doch die N22 nach Andorra ist geöffnet und andere Fahrzeuge kommen uns wie selbstverständlich entgegen. Begleitet von einer Litanei unseres Navis, dass wir uns auf einer gesperrten Straße befänden, folgen wir dieser stur immer Richtung Andorra. So erreichen wir schließlich Pas de la Casa, das erste Bergdorf im Fürstentum Andorra an der Französischen Grenze.
Völlig überwältigt von den gewaltigen Bauwerken in den Hochpyrenäen entscheiden wir uns für den Mauttunnel Richtung Andorra la Vella. Der 2002 eröffnete Tunnel d'Envalira kostet zwar ein paar Euro. Jedoch wäre die Fahrt über den Pass durch den deutlich höheren Spritverbrauch und Verschleiß nur unwesentlich billiger gekommen. Wenn wir überhaupt einen Vorteil hätten. Der Tunnel bringt uns in die Gemeinde Canillo zu unserem ersten Ziel. Die kleine Kirche Sant Joan de Caselles steht direkt an der Straße und bietet genügend Parkmöglichkeiten. Offenbar ist es ein beliebtes Touristenziel.
Doch leider ist die hübsche romanische Kapelle aus Naturstein geschlossen; und das bleibt sie auch in der jetzigen Nebensaison. So müssen wir uns mit der Aussicht auf das Kirchlein und die Häuser in der Umgebung begnügen, welche allesamt stilvoll und einheitlich aus schönem Naturstein gebaut sind. Aber was ist mit den Jungfrauen geworden, die bei Max Frisch die Häuser ihrer Väter geweißelt haben? Alte Bergschnattere? Nein, sie sind wohl nur der Fantasie des Schweizer Schriftstellers entsprungen, der für sein Drama den Namen Andorra nutzte, ohne den Kleinstaat damit gemeint zu haben.