Vom Kloster Hirbovaț wäre ein Abstecher zum Manastirea Țiganesti möglich. Allein für die Fahrt müssten wir allerdings gut anderthalb Stunden zusätzlich einplanen. Ob uns dann noch genug Zeit für einen Stadtrundgang in Balti bleibt, ist fraglich. Kurzum, wir fahren in die entgegengesetzte Richtung bzw. direkt zur größten Stadt im Nordwesten der Republik Moldau. Dieser Teil des Landes liegt abseits der touristischen Routen, was sich leider nur allzu bald an den Straßen widerspiegelt.
Hatten wir die Schotterpisten um Hirbovat noch als lästig empfunden, wünschten wir nun, sie hätten hier den Bitumen weggelassen. Die Fahrt wandelt sich zu einem Geduldspiel, bei dem wir konzentriert einem Schlagloch nach dem anderen ausweichen. Aber wie erklärte uns ein Einheimischer: »In Moldawien gibt es von Jahr zu Jahr weniger Schlaglöcher. Sie wachsen zusammen.« Was haben wir gelacht. Moldawische Schotterpisten sind da deutlich gemütlicher zu befahren und weniger Achsbruch gefährdend.
So kommen wir nachmittags in Balti an und machen uns auf die Suche nach unserem Hotel. Es befindet sich zwar mitten in der Innenstadt, ist jedoch etwas verzwickt über eine Seitenstraße anzufahren. Wenn man bedenkt, dass Balti mit knapp 100.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes ist,
hat man die Stadtplanung doch eher stiefmütterlich behandelt. Vergammelte Plattenbauten prägen das Zentrum. Es macht den Anschein, als würden die Menschen in aufgestapelten Schuhschachteln wohnen. »Lebst du schon oder schachtelst du noch«, findet Lars auch hierzu die passende Bemerkung.
Laut unserem Reiseführer soll ein überdurchschnittlich großer Anteil der Bewohner russischstämmig sein. Gewisse Sprachbarrieren scheinen also vorprogrammiert. Wir lassen uns überraschen. Zumindest befindet sich unser Hotel in einem der besseren Gebäude der Stadt mit fast schon moderner »Citymall«, wenn man das hier so nennen darf.
Jetzt müssen wir nur noch auf den Hotelparkplatz gelangen, der mit einer Schranke gesichert ist. Ich bin kaum ausgestiegen und im Gebäude verschwunden, schwingt diese wie von Geisterhand nach oben. Irgendjemand hat diesen Bereich also im Blick, na prima.
Eigentlich gilt ja Transnistrien als das Land des Sozialismus bzw. als die »Kleine Sowjetunion«. Doch so wie wir unser Hotel in der Moldaustadt Balti verlassen und zur Flaniermeile der Straße der Unabhängigkeit schlendern, fühlen wir uns weit mehr in die Tage der Sowjetzeit versetzt als in Tiraspol.
Die Feierlichkeiten zum Tag der Befreiung von den Faschisten bzw. dem Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg des sowjetischen Volkes« steuern auf ihren Höhepunkt zu. Es scheppert russische Propagandamusik aus alten Lautsprechern. Abwechselnd werden wir mit fröhlicher Polka und wehmütigem Tango beschallt. Jetzt bloß nicht anfangen zu tanzen ...
Auch in Balti findet sich ein sowjetisches Befreiungsdenkmal mit dem legendären Panzer T-34. Davor flackert die obligatorische ewige Flamme zum Gedenken an die schrecklichen Ereignisse. Es ist der perfekte Ort für das jährlich wiederkehrende Fest. So trifft sich dort die halbe Stadt, um den Jugendvorführungen zu lauschen. Kleine Kinder – hübsch verpackt in winzigen Soldatenuniformen – singen Volkslieder, während sie Paradeschritte mimen.
Kurze Zeit später tanzen junge Frauen um jugendliche Soldaten. Mit verzweifelter Mine drücken die Mädchen eine Trauer aus, als würden die Burschen heute tatsächlich in den Krieg geschickt. Es ist schon seltsam, wie hier den Sowjets gehuldigt wird, die sie damals zwar befreiten, ihnen aber keine wirkliche Freiheit brachten. Würde man die Menschen nicht jedes Jahr von Neuem daran erinnern, sie würden es angesichts der Tristesse um sie herum nicht erkennen.
Doch das Volksfest versinnbildlicht den Nationalstolz und die angebliche Zufriedenheit der russischstämmigen Moldauer, die in Balti bis dato die Mehrheit bilden. Doch wie zufrieden sind die Einwohner Baltis in ihren verschrobenen Plattenbauten wirklich? Große Werbeflächen in der Fußgängerzone verheißen ein besseres Leben in Kanada. Übersetzungsbüros bieten ihre Dienste für die nötigen Dokumente an.
Zuletzt kümmern sich Reiseveranstalter um eine sichere Einreise in das ferne Land. Bei der Anzahl an Werbungen scheint sich hier das Geschäft der »Schleuserbanden« oder der vielleicht doch legal organisierten Auswanderungsindustrie zu lohnen. Wie viele Moldauer auf diese Art wohl in das Land ihrer Träume finden? Wir wissen nicht, wohl aber, dass für viele das Abenteuer in einem Albtraum der Ausbeute endet.
Die Fußgängerzone von Balti ist deutlich überproportioniert. Leider fehlt dem Land das Geld für die Straßensanierung. Schon die Fahrt zum Hotel hat uns durch unzählige Schlaglöcher ausgebremst.
Hier nun laufen die Familien mit ihren Kinderwägen Slalom um die Pfützen und Löcher im Belag. Und Kinderwagen gibt es in Balti reichlich. Wer hier die vielen Kinder beobachtet, kann schwer glauben, dass in Moldawien die Bevölkerung rasant abnimmt.
Auch wenn unser Reiseführer nur wenig nette Worte für Balti übrig hat, finden wir es hier eigentlich ganz nett. Es gibt einige schöne Bauwerke, wie die neobyzantinische Kathedrale oder die typischen sowjetischen Repräsentationsbauten. Trotzdem kommen kaum Touristen nach Balti.
Dafür werden die wenigen, die es bis hierher schaffen, umso herzlicher in den Gaststätten begrüßt. Und das trotz russischer Sprachbarriere. Doch Schaschlik kennt jeder und so bekommen auch wir was zum Essen. Im italienischen Restaurant »Oliva« wird uns am zweiten Abend neben Bioessen auch eine englische Karte gereicht. Schöne Sache!
1779 wurden unter türkischen Herrschaft gezielt Juden nach Balti angeworben. Die jüdische Bevölkerung wuchs daraufhin stetig an. Und mit ihr die Zahl der Synagogen, von denen bis in die 1890er Jahre 72 Stück gezählt wurden.
Bis Juli 1941, bevor der Holocaust das Land erfasste, stellten Juden die Hälfte der Bevölkerung von Balti. Geblieben ist der bis heute zweitgrößte jüdische Friedhof Moldaus. Etwa 25.000 Grabsteine zieren das große Feld nordwestlich des Stadtzentrums.
Unser Versuch, den Friedhof mit dem Auto anzufahren, scheitert an der Strada Decebal. »Für die Gasse bis zum Tor brauchen wir Allrad oder einen Esel.« Verstohlen blick ich zu meinem Mann rüber, erkenne in seinen Augen aber nur eine überdeutliche Warnung. Schade, mit dem Gepäck hatte das besser funktioniert.
Wenig später setzt er unser Auto an den Straßenrand und hoffen wir, es dort später auch wieder vorzufinden. So erreichen wir nach einem kurzen Fußmarsch einen Friedhof mit friedlicher Stille. Auffallend sind die schmiedeeisernen und mannshohen »Gartenzäune«, welche die einzelnen Gräber ringsherum umschließen.
Zu unserer Überraschung treffen wir ein Touristenpaar, welches am Morgen mit uns im Hotel gefrühstückt hat. Das Paar kommt aus Israel, um in Balti das Grab vom Vater des Ehemanns zu besuchen. Wegen der Menge an Gräbern haben sie sich einen Guide genommen und sind tatsächlich fündig geworden. Der Vater ist in den 1980er Jahren gestorben.
Heute leben noch etwa 16.000 Juden in Moldawien, wobei zwei Drittel der jüdischen Gemeinde von Chisinau angehören. Die beiden sind, wie viele andere Juden auch, schon vor dem Tod des Vaters nach Israel ausgewandert. Sie leiten ein Reisebüro und sind auf Europareise. Leider sprechen sie nur Jiddisch, was für uns nur teilweise verständlich ist. Doch es ist für uns eine nette und interessante Begegnung.
Balti liegt abseits der Touristenrouten in Moldawien. Dementsprechend mager ist die Hotelauswahl. Etwas skeptisch haben wir uns für das Elite Hotel im Stadtzentrum entschieden. Die Shopping Mall im unteren Teil des Gebäudes wirkt seltsam in dieser Gegend. Auf der Suche nach dem Hoteleingang irre ich an menschenleeren Läden vorbei. Es mangelt an zahlungskräftiger Kundschaft.
Schließlich finde ich den Lift. Da ich bereits im Gebäude war, als die Parkplatzschranke geöffnet wurde, hatte ich dies nicht mitbekommen. Im Glaslift beobachte ich dafür nun Lars, wie er mit sämtlichen Taschen einem Packesel gleich zum Eingang stapft. Sekunden später steige ich in der falschen Etage aus.
So fahren wir in den beiden Liften aneinander vorbei bzw. überholt mich Lars mit dem anderen Lift. Als ich endlich zur Lobby im obersten Stock geirrt bin, treffe ich dort auf meinen mich suchenden Mann und eine kichernde Hotelangestellte. Sie hatte ihm versichert, dass bei ihr keine deutsche Frau angekommen sei und sie auch keine versteckt halte.
»Vielleicht macht sie Shopping, kicher, kicher, kicher.« Äh,nein, ich habe mich nur vom Lift verarschen lassen. Aber gut. Unser Zimmer befindet sich einen Stock tiefer im Gebäude. Dort sitzt auch der Mann, der den Parkplatz vom Fenster aus bewacht und die Schranke fernsteuert.
Kaum stehen wir im Zimmer, verpufft sämtliche mitgebrachte Skepsis. Alles ist neu und hochmodern. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl. Ein Eindruck, der für die nächsten beiden Tage anhält. Das Frühstück ist lecker, üppig und wird mit einem fröhlichen Kichern serviert.
Aha, die Kleine vom Empfang hilft also auch beim Service kräftig mit. Angesichts der Lage mitten in Balti ist es im Hotel angenehm ruhig. Trotzdem trennen uns nur wenige Schritte von der »Flaniermeile« entfernt. Es ist also perfekt für uns.