Von Balti aus fahren wir nach Soroca an die ukrainische Grenze. Die Entfernung dorthin misst knapp 80 Kilometer. Da lassen wir das Gepäck lieber im Hotel und kehren am Abend zurück nach Balti. Allerdings zieht sich die scheinbar kurze Strecke zeitlich ganz schön in die Länge.
Wer den Nordosten Moldaus kennt, ahnt es schon: Die R13 ist zwischen Balti und der Schnellstraße M2 mit Schlaglöchern übersät. Einige sind so tief, dass sich selbst die Lastwagen vor uns drum herum schlängeln. Das kann dauern.
Wir sind froh, als wir bei halber Strecke Floresti erreichen und erst einmal eine Pause einlegen. Wunderschön mäandriert hier die Raut durch die Landschaft. Wir stehen auf einer Abbruchkante des Flusses und blicken auf das Dörflein Varvareuca hinab. Die Gegend scheint wenig zu bieten. Zumindest wird sie mit keinem Wort im Reiseführer erwähnt.
Einzig das Bild, das sich vor uns erstreckt, ist herrlich. Die Wiesen leuchten in einem satten Grün, die Akazien stehen in voller Blüte, dazwischen gruppieren sich einfache Häuschen. Willkommen im Bilderbuch-Moldawien! Mehr noch: In der Raut paddeln weiße Hausenten, während Frösche am Ufer voller Inbrunst ein Konzert quaken. Wie kitschig!
Wir müssen weiter, wenn wir heute noch in Soroca ankommen wollen. So erreichen wir kurz darauf das Dorf Gvozdova und den Kreisverkehr mit Anbindung an die M2 Drochia Junction – Soroca. Sämtliche Lastwagen biegen hier Richtung Chisinau ab. Wir indes finden uns plötzlich schier alleine auf einer optisch nagelneuen Straße wieder.
Nach dem bisherigen Gerumpel ist es im Auto auf einmal herrlich still. Die Schnellstraße ist bei den Dörfern sogar mit baulichen Geschwindigkeitsbegrenzern, Überquerungshilfen oder Gehwegen versehen. Solch einen Luxus hatten wir gerade hier niemals erwartet. Immerhin gilt Soroca als Zigeunerhauptstadt Südeuropas.
Als erstes Ziel in dieser Gegend hatten wir das Kerzendenkmal gewählt. Dieses thront hoch über der Stadt und verspricht einen guten Überblick über Soroca. Dieser geht über den Fluss Tyra beziehungsweise der Nistru oder auch Dnister in die Ukraine. Soweit der Plan. Sowie uns unser abenteuerlustiges Navi in den kleinen Ort Zastânca lotst, gelangt unser Fahrzeug jedoch einmal mehr an seine Grenzen.
»Straße verlassen« lässt die Automatenstimme mutig verlauten. Welche Straße? Die letzte liegt längst hinter uns. Mehr ist mit dem Wagen kaum möglich! Wir fragen eine Passantin. Mit ausladenden Armbewegungen versucht sie uns zu erklären, dass wir auf der falschen Seite des Hügels sind und erst durch Soroca fahren müssen. Wir sind einsichtig … und beginnen also mit der Stadtbesichtigung.
Mittags steigen die Temperaturen wieder deutlich an. Sollen wir Soroca zu Fuß erkunden oder doch lieber das Auto nutzen? An sich mögen wir Spaziergänge und lassen den Blechhaufen gerne mal stehen. In Soroca jedoch liegen die Sehenswürdigkeiten weit auseinander und geht es ständig bergauf. Doch erst ist Zeit für einen Kaffee. Im kleinen, touristisch gestalteten Stadtpark werden wir fündig. Gleich neben dem Laden mit »Suveniruri« bietet ein Kiosk heiße und kalte Getränke an. Prima und das Ganze äußerst günstig. Zucker und die aus Deutschland importierte Kaffeemilch werden mit je zwei Lei extra berechnet. Da der Verkäufer unsere Scheine nicht wechseln kann, erhöhen wir unseren Mineralwasserbestand. Brauchen werden wir es sicherlich.
Fußläufig ist der Fähranleger vom Park aus gut zu erreichen. Sollen wir versuchen, in die Ukraine zu kommen? Am Ufer des Dnister treffen wir einen Polen aus Warschau. Er teilt die Idee mit uns und erklärt selbstbewusst, dass polnische Bürger kein Visum für die Ukraine benötigten. Wir indes fragen erst einmal im Zollhäuschen, wie das so funktioniert.
Ein Gruschnigruschni und Finger winken des Zöllners bedeutet wohl: »Ihr kommt hier nicht rein!« Unsere Enttäuschung hält sich in Grenzen. Denn auch trotz eines Duty-Free-Shops hatten wir nichts anderes erwartet. Die beschauliche Fähre ist dem kleinen Grenzverkehr für die direkten Anlieger vorbehalten. Das gilt auch für den von der Visumspflicht ausgenommen Polen, der wenig später schulterzuckend an uns vorbei zur Innenstadt von Soroca fährt.
Wir selbst fahren mit dem Auto zur Himmelfahrtskathedrale. Das Navi versucht, uns durch eine schmale Gasse steil nach oben zu lotsen. Haha, nicht mit uns! Wir nehmen einfach die nächste, deutlich breitere Straße. Blöderweise entgegen der Fahrtrichtung. Sowie die Anwohner der Einbahnstraße wild zu gestikulieren beginnen, reißt Lars auch schon das Lenkrad 'rum, grinst schelmisch und wendet in nur einem Bogen. Es ist eine wirklich breite Straße. Nochmal gut gegangen, drehen wir eine weitere Runde durchs Zentrum und fahren die Kirche schließlich von einer höher gelegenen Straße aus an. Die Himmelfahrtskathedrale wurde nach nur zwei Jahren Bauzeit 1842 eingeweiht.
Bemerkenswert in dem neoklassizistischen Gotteshaus ist der außen achteckige, innen kreisrunde Tambour zwischen dem Kirchenschiff und der Kuppel. Leider wird der Innenraum bei unserem Besuch restauriert, sodass dies nicht richtig zur Geltung kommt. Hübsch anzusehen ist außerdem ein dreistöckiger Glockenturm aus dem Jahr 1878. Ansonsten aber ist die Besichtigung rasch abgehakt. Zu Fuß geht es weiter zur Demetriuskirche. Sie wurde zwischen 1814 und 1827 im neobarocken Stil errichtet und ist die älteste Kirche der Stadt. Erneut haben wir Pech und finden die Kirche verschlossen vor. Die zweite Kirchenbesichtigung beschränkt sich also auf den Garten und ist ebenfalls bald erledigt.
Soroca gilt außerdem als die Zigeunerhochburg Südeuropas. Der Anteil der Zigeuner an der Stadtbevölkerung macht bereits über ein Drittel aus. Die moldauischen Sinti und Roma nennen sich selbst »Cigani«, also Zigeuner. So stellt das Wort hier keine Diskriminierung dar. Wegen der Hitze belassen wir es, mit dem Auto über den Zigeunerhügel zu fahren. Die Straßen sind katastrophal und die Gebäude von skurrilem Protz.
Goldene Kuppeln, orientalische Bögen, kirchliche Säulenwände... hier werden Elemente verschiedenster Baustile zu einem heillosen Kitsch vermengt, ohne dass auch nur ein Gebäude vollendet wäre. Die Villen sind meist unbewohnt. Teilweise mangelt es nur noch an Fenstern oder Dächern. Wird in den Städten Europas wieder genug zusammen gebettelt, können die protzigen Bauten vielleicht fertiggestellt werden. Genaues jedoch weiß man auch hier nicht.
Nach den eher ernüchternden Kirchenbesichtigungen unternehmen wir einen zweiten Versuch mit dem Kerzendenkmal. Diesmal nutzen wir die Straße zwischen der Tyra beziehungsweise Nistru und dem Hügel, auf dem das Denkmal weithin sichtbar thront. Gut dreieinhalb Kilometer ab der Festung von Soroca erreichen wir den Parkplatz. Blöd nur, dass sich dieser am Fuße des Berges befindet. Jetzt haben wir alle Sehenswürdigkeiten von Soroca wegen der Hitze mit dem Auto abgeklappert und müssen nun doch bergsteigen. Hoffentlich steht das Auto nachher noch auf dem einsamen Parkplatz.
Ein steinernes Tor öffnet die Treppe nach oben. Über 600 Stufen liegen vor uns. Schon nach den ersten Höhenmetern erreichen wir den »Brunnen des Lehrers«. Auf Wunsch des Schriftstellers Ion Druta wurde der hübsche Brunnen 2014 unter dem Pavillon erbaut. Trinkwasserbrunnen sind in Moldawien in jedem Ort üblich. Hier indes fehlt der sonst genauso übliche Eimer. Doch wir haben genügend Wasser für den Aufstieg dabei. So steigen wir höher, immer in Begleitung von Smaragdeidechsen und sogar einer Schlange, die sich in der Sonne aufwärmt. Langsam öffnet sich die Sicht auf Tsekynivka. Der Ort befindet sich zwar in der Ukraine, wird von der Tyra und somit Moldawien aber fast umschlossen.
Bis wir oben sind, geraten wir ganz schön ins Schwitzen. Und das übrigens ganz im Gegensatz zum Wachpersonal, welches tatsächlich mit einem alten Lada über die Rumpelstraße bis hierher gefahren ist. Die »Kerze der Dankbarkeit«, die Lumnarea recunostintei, soll eine Würdigung all derer sein, welche etwas zur Kulturgeschichte Moldaus beigetragen haben. Der Aufstieg endet tatsächlich beim Eingang in das Monument, wo sich eine winzige Kapelle befindet. Sie, also die Kapelle, ist kaum der Rede wert. Wohl aber das Licht an der Spitze des Kerzendenkmals. Es reicht bis zur über 50 Kilometer entfernten Ortschaft Otaci.
Mit rund 37 000 Einwohnern ist Soroca eine größere Stadt in Moldawien. Wir erwarten eine höheres Verkehrsaufkommen und eine längere Parkplatzsuche. Der Weg ins Stadtzentrum führt über den sogenannten »Zigeunerhügel«. Von dort können wir der Straße weiter bergab bis direkt zum Soroca Fortress folgen. Dort, am Ufer des Dnister angekommen, erwartet uns ein leerer Parkplatz.
Das ist ja schön. 'Wie lange wird es wohl dauern, bis sich Lars für einen der vielen freien Plätze entscheiden kann?', überlege ich noch, als er den Wagen auch schon zielsicher auf der Freifläche parkt. Bleibt nur noch die Frage, ob die Festung überhaupt geöffnet ist, so menschenleer, wie es hier ist?
Wir spazieren durch das Eingangstor, ohne eine Kasse zu sehen. Eine ältere Frau sitzt strickend im Hof. Als sie uns bemerkt, eilt sie auf uns zu und fragt nach Tickets. Mit Fragezeichen im Gesicht schauen wir sie an. Der Eintritt kostet zehn Lei pro Person. Das sind läppische 50 Eurocent. Wir drücken ihr das Geld einfach so in die Hand, woraufhin sie lachend verschwindet. Gut, wir schauen uns schon einmal im Innenhof um, bis die Dame mit zwei Tickets in der Hand zurückeilt. Das klappt ja prima. Es scheint bis zur Kasse doch eine längere Strecke zu sein, die sie nur einmal am Tag freiwillig läuft. Denn die nächsten Besucher schickt sie davon, als diese ticketlos im Burghof erscheinen.
Die strategische und wirtschaftliche Bedeutung der Gegend verdeutlicht die Geschichte. Bereits im 12. Jahrhundert befand sich hier eine Furt der Händler aus Genua über den Fluss. Dennoch wurde erst zur Zeit des Fürstentums Moldau mit dem Bau einer Festung begonnen. Ab 1499 war der Übergang über die Tyra militärisch gesichert. Wie die Festung Bendery in Transnistrien gehört die Burg Soroca zu den insgesamt vier Bollwerken am rechten Ufer des Flusses. Zusammen mit weiteren Festungen an der Donau sollten sie die nördliche und östliche Grenze Bessarabiens sichern. Während unter dem moldauischen Fürsten Stefan cel Mare noch eine hölzerne Festung genügte, ließ sein Sohn, Fürst Petru Rares, die heute noch in Teilen bestehende steinerne Festung erbauen. Baumeister aus Siebenbürgen unterstützten ihn dabei.
Die Soroca Fortress fasste damals 2000 Soldaten. Im Falle einer Belagerung fand zudem die Stadtbevölkerung hinter den dicken Mauern Unterschlupf. So sind die Einwohner heute noch stolz darauf, dass die moldauischen Soldaten beim Pruthfeldzug (1711) der Belagerung durch Osmanischen Truppen so lange trotzten, bis die verbündeten russischen Truppen eintrafen und die Stadt befreiten. Trotzdem wurde die Festung später einige Male beschädigt.
Mit Fördermittel der EU wird heute versucht, die alten Mauern bestmöglich zu rekonstruieren. Und auch wenn die an Zaubererhüte erinnernden Dächer eher der Fantasie heutiger Architekten entsprungen sind und man über die Wahl der verwendeten Materialien streiten kann, finden wir es gelungen. Oder, wie mein Mann es ausdrückt: »Burgen wurden über Jahrhunderte immer wieder verändert und repariert. Bei der Wahl der Baustoffe aber hat man immer das genommen, was man hatte.«