Kaum bleibt der Samcheong Park hinter uns zurück, erreichen wir auch schon die erste größere städtische Straße. Wir orientieren uns zunächst links und nehmen dann die erste schmale Gasse, die uns zwischen den alten Häusern des Bukchon Hanok Village hindurchführt. In diesem Teil der Stadt gilt es, sich zu Beginn des Besuchs den oberen Gassen zu widmen. Denn wie weite Teile Seouls erstreckt sich auch der Bezirk Bukchon einem Hang hinauf, was bedeutet: es geht ständig hoch und runter.
Die ersten der oberen Häuser wirken mit den Bonsai-Pinien und der luxuriösen Ummauerung sehr feudal. Das Hanok Village diente während der Joseon-Dynastie als Wohnviertel für hochrangige Regierungsbeamte und Adlige. Bis heute residieren hier einige aristokratische Nachfahren. Nur einen Steinwurf weiter endet der blaublütige Teil des Viertels. Nämlich genau da, wo es idyllisch wird. Und außerdem natürlich da, wo uns plötzlich schön gekleidete Koreanerinnen in ihrem Hanbok entgegenkommen.
Das Bukchon Village besteht aus ungefähr 900 traditionellen Hanok-Häusern. Das Besondere an diesem Viertel ist jedoch seine Ursprünglichkeit. Das Dorf kann auf eine über 600 Jahre alte Geschichte zurückblicken. Während andere Villages extra für Touristen aus dem Boden gestampft wurden, ist hier alles authentisch. Die Philosophie des Hanok-Baus basiert auf die fünf Elemente des Universums, also Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Als Baustoffe wurden somit Holz, Ton, Papier, Stein und Metall verwendet. Ziel des Hanoks ist es, einen Lebensraum der Koexistenz von Mensch und Natur zu schaffen, also zu ermöglichen, nebeneinander zu bestehen.
Ob dieses Nebeneinander bestehen in einer Großstadt wie Seoul noch gegeben ist, sei dahingestellt. Denn die Natur wurde auch hier längst zur Nebensache degradiert. Zugleich ist der Lebensraum durch die Popularität Bukchons inzwischen stark eingeschränkt. Während uns in den oberen Gassen nur eine Handvoll Hanbok begegnen, werden es tiefer im Viertel zunehmend mehr. Dabei haben wir mit unserer Ankunft am späten Nachmittag noch eine gute Zeit erwischt. Leider nämlich haben mehrere Seifenopern dafür gesorgt, dass das Bukchon Hanok Village zeitweise nur so von Touristen überquillt. Alle sind sie auf der Suche nach dem perfekten Platz für ein Foto von sich selbst, wenn möglich im Hanbok. Während wir darauf achten, die Gassen möglichst leer abzulichten, scheinen die Koreaner die vielen Gleichgesinnten im Hintergrund gar nicht zu registrieren.
Ganz im Gegenteil dazu registrieren die Einwohner eine erschreckende Zunahme an Menschen, die täglich in ihr Wohngebiet stapfen. Um einem weiteren Ausufern des Ansturms Herr zu begegnen, ist der Besuch des Bukchon Hanok Village inzwischen zeitlich begrenzt. Sonntags sind die Gassen einzig den Bewohnern vorbehalten. Eine Frau steht mit einem Schild mitten in Bukchon: »please talk quietly« richtet sie die Bitte der Bewohner in mehreren Schriftarten an die Passanten. Ob es viel nützt, wenn die Besucher nur auf sich selbst achten, ist fraglich? Ich tippe einer lautstarken Italienerin auf die Schulter und zeige auf das Schild. Es wirkt. Nun schafft auch sie es, ihre Leute mit ruhigen Anweisungen für das Andenkenfoto zu sortieren.
Wir selbst sind inzwischen eine gute Weile auf den Beinen. Zeit für uns, das Observatory Café aufzusuchen. Dieses Gebäude überragt die umliegenden Hanok um ein Stockwerk. Somit bietet es seinen Gästen einen perfekten Ausblick über die wunderschön geschwungenen Dächer aus aufwendig gefertigten Dachziegeln, den Giwa. Ebenfalls ganz praktisch finden wir, dass für den Besuch des Cafés Eintritt genommen wird. Das schreckt viele Besucher ab. Wir bezahlen den Obolus gerne, bekommen dafür eine gute Tasse kalten Zitronentee und dazu eine traumhafte Aussicht vom Wintergarten auf Bukchon und den Sonnenuntergang am Horizont von Seoul.
Blicke über die Dächer des Bukchon Hanok Village