Die gesamte Region um die ehemalige Silla-Hauptstadt Gyeongju ist gespickt von verschiedensten Sehenswürdigkeiten. Überall finden sich Tempel, Grabanlagen, Memorial-Parks, Folk Villages oder Konfuzianische Schulen. Entsprechend schwierig ist es, zwischen all den schönen Sachen zu wählen und sich sein Programm zusammenzustellen. Die historische Altstadt bietet viel. Doch alles fußläufig Erreichbare haben wir an einem Tag durch. Schon am zweiten Tag wird damit klar: wollen wir noch andere Dinge sehen, müssen wir das Auto nutzen. So sind wir kurz nach dem Frühstück unterwegs zur Tempelanlage von Bulguksa, die 17 Kilometer von Gyeongju entfernt liegt.
Wie an so vielen Orten der Welt gilt am Wochenende auch für Bulguksa: Der frühe Vogel fängt den Wurm! Der Tempel gilt als Meisterwerk der buddhistischen Sakralbauten aus dem Silla-Königreich. So ist auch dieser Teil der UNESCO-Welterbestätten und wird dementsprechend stark frequentiert. Am Parkplatz sorgen Platzanweiser für Ordnung und eine bestmögliche Nutzung des begrenzten Raums. So stehen wir bald in der großen Parkanlage, die den Bulguksa Tempel umgibt. Scharen von Besuchern strömen vor uns über die Brücke beim großen Teich. Keiner scheint sich für das Gewässer zu interessieren, welches von bunten Bäumen umgeben eine angenehme Ruhe ausstrahlt.
Wie in den meisten Tempelanlagen, gibt es auch hier einen Stelenpark. Bei Bulguksa wurden darin keine Kosten gescheut. Neben den kleinen Steinpagoden und Granitstelen gibt es ein riesiges Ei, das von einer Lotusblüte umgeben ist und von vier Löwen beschützt wird. Die Lotusblume wird im Buddhismus als eine heilige Blume betrachtet. Die Löwen symbolisieren die Kraft und Furchtlosigkeit Buddhas. Das zentrale Ei schließlich wird als zweite Geburt oder Transzendenz gesehen. Es symbolisiert im Buddhismus das Aufbrechen der Schale der Unwissenheit. Durch das Cheonwangmun bzw. Tor der Vier Himmlischen Könige hindurch, gelangen wir zum Haupttempel von Bulguksa, der wunderschön in den umliegenden Berg eingebettet ist.
Die Ursprünge Bulguksas reichen bis ins Jahr 528 zurück, als König Beopheung an dieser Stelle einen Gebetstempel für seine Gattin errichtete. Nachdem dieser in Vergessenheit geriet, entstand im Jahr 774 unter König Gyeongdeok der Bulguksa Tempel in seiner heutigen Form. 800 Jahre lang blieb der Tempel unversehrt. 1593 brannte er jedoch während des siebenjährigen Imjin-Krieges komplett nieder. Alsbald begannen Arbeiten zur Wiedererrichtung. Ihnen folgten Plünderungen und Zerstörungen, weshalb der Tempel bis in die 1970er Jahre verfiel. Erst durch Präsident Park Chung-hee wandte sich das Schicksal wieder zum Guten. Er erkannte die Bedeutung des Tempels und wies die Restaurierung an. Heute ist Bulguksa einer der vielen Tempel in Südkorea, die dem Jogye-Orden angehören.
Bulguksa ist berühmt für seine ästhetische Architektur, welche eine einzigartige Technik aufweist. Die Steinkonstruktionen aus Granit repräsentieren in einem hohen Maß die Kunst und das Können der Steinmetze aus der Silla-Periode. Einige dieser Granitbauten aus dem 8. Jahrhundert haben die Zeit überdauert. Sie stechen auch uns beim ersten Anblick des Tempels sofort ins Auge. Wir stehen vor der Brücke der Lotusblumen, dem Yeonhwagyo, und der Brücke der Sieben Schätze, dem Chilbogyo. Beide bilden ein zweigeteiltes Treppenbauwerk, welches durch das Anyangmun, das »Tor des reinen Landes«, in den kleinen Hof des Bulguksa führt. Die Yeonhwagyo-Brücke ist, wie der Name verrät, mit feinen Lotusblüten verziert. Angeblich können nur erleuchtete Menschen, die den Himmel erlebt haben, sich auf der Treppe hinauf und hinab bewegen. Die Steinstufen sind für Besucher gesperrt. So müssen wir das erst einmal glauben.
Der Beomyeongnu-Pavillon ist für die Dharma-Trommel errichtet. Auch hier stammen die Steinsäulen unter der Plattform von den Sillas. Die Form des Bauwerks symbolisiert den imaginären Berg Sumeru, welcher in der buddhistischen Kosmologie als Zentrum des Universums gilt. Dementsprechend ziert der Pavillon die Mitte der Tempelfront. Zum Jahamun-Tor, dem Haupteingang in den Hof der Daeungjeon Halle, führen die Blaue und Weiße Wolkenbrücke Cheongungyo und Baegungyo. Auch diese fungieren als Treppen, welche hier allerdings parallel nebeneinander verlaufen. Alle vier Brücken bzw. Treppen gehören zu den wertvollsten Werken des Tempels, da sie in ihrer ursprünglichen Form als komplettes Stück erhalten geblieben sind.
Die wertvollen Steintreppen sind wirklich zu schade, um sie niederzutrampeln. Gut dass sie für den allgemeinen Besucherverkehr gesperrt sind. Wir folgen also einer Schar von Sonntagsausflüglern durch ein Seitentor, hinein in den Tempelhof der Haupthalle Daeungjeon, also einer Halle mit einer Figur Buddhas. Hier stehen zwei weitere Steinschätze des Bulguksa Tempel. Es sind die beiden Pagoden Shakyamuni und Dabotap. Die erste ist klein und schlicht, im Gegensatz zur Dabotap Pagode. Die meisten Pagoden in Korea sind in einer geschlossenen »Stein auf Stein Struktur« erbaut. Die Dabotap Pagode unterscheidet sich gewaltig von den gewöhnlichen Strukturen. Sie besteht aus Treppchen, Säulen, Balken und Plattformen in Quadraten, Achtecken und Kreisen.
Mit den verschachtelten und unterschiedlichen Strukturen spiegeln sich in der Dabotap Pagode das Irdische und Himmlische wider. Leider hinderte es die Japaner bei ihrem Vandalismus zum Ende des 16. Jahrhunderts nicht daran, die Pagode zu zerlegen. Später sollen sie das Bauwerk wieder rekonstruiert haben. Das jedoch ist nirgends dokumentiert. Genaues weiß man also nicht. Trotzdem stehen die beiden Pagoden heute wieder gut da. Einzig drei der vier Steinlöwen, welche die Dabotap beschützten, tauchten nie wieder auf. Der übrig gebliebene vierte Löwe sitzt hingegen wacker seit 400 Jahren auf seiner Plattform und blickt in den Hof.
Die beiden Pagoden wirken eher unscheinbar. Doch sind sie umgeben von Dutzenden Blumentöpfen mit bunten Herbstastern. Solche Farbtupfer haben in den Tempeln, die wir zuvor besucht hatten, unzählige Laternen gebracht. Bulguksa jedoch ist ein Blumentempel. Hier leuchtet die Blütenpracht in der Sonne, während die Papierlaternen langsam verblassen. Auch die beiden Hallen Daeungjeon und Museoljeon (die »Halle ohne Worte«) fallen nur wegen ihrer üppigen Blumendekoration auf.
Für unseren Geschmack herrscht bei den beiden unteren Tempeln zu viel Betrieb. Das Gelände von Bulguksa ist terrassiert. Eine Terrasse weiter oben befindet sich die Gwaneumjeon Halle. Die Treppen dorthin sind so steil, dass sie uns an die Tempelanlage von Angkor in Kambodscha erinnern. Steile Treppen haben den Vorteil, dass nicht jeder hinauf steigt. Beim Gwaneumjeon umgibt uns somit wieder eine angenehme Ruhe. Dabei ist dieser Schrein gerade bei den einfachen Leuten sehr beliebt. Er ist dem Avalokiteshvara, dem Bodhisattva des vollkommenen Mitgefühls, der Güte und Barmherzigkeit gewidmet. Avalokiteshvara ist bekannt als »derjenige, der auf die Schreie der Welt hört«. Er dient dem Wohl aller Lebewesen und hilft den Leidenden. In Tibet wird der Bodhisattva Avalokitesvara sogar als Schutzpatron verehrt.
Wir beobachten das Geschehen um den Gwaneumjeon Schrein und lauschen den Gebetsgemurmel eines Mönchs. Plötzlich schreitet eine Aufseherin mit strengem Blick auf uns zu und weist uns zur Außenmauer der Terrasse. Haben wir etwas falsch gemacht? Ja, wir haben dem herrlichen Ausblick über ein Meer aus Dachpfannen noch keinerlei Beachtung geschenkt. Nur von hier hat man solch eine wunderschöne Aussicht über die Dächer von Bulguksa. Koreaner sind ein sehr aufmerksames Volk. Das merken wir auch vor der nächsten Halle, als eine Koreanerin als Tourguide ihrer Gruppe ein Fingerspiel beizubringen versucht. Hinter ihrem Rücken übt sich Lars darin, es ihr nachzumachen. Es klappt nicht, dafür zeigt er eigene Fingerspiele und lenkt die Aufmerksamkeit der Gruppe augenblicklich auf sich. Verwundert dreht sich die Frau um, als sie bemerkt, dass ihre Schützlinge etwas völlig anderes ausprobieren. Koreaner verstehen auch Spaß und alle lachen herzlich.
Unser Rundgang durch den Blumentempel endet bei der Geugnakjeon bzw. der Halle höchsten Glückseligkeit. Darin sitzt ein 1,66 Meter hoher Amitabha Buddha, also ein »Buddha des Unermesslichen Lichtglanzes« sowie der umfassenden Liebe. Davor steht ein Erdferkel aus Messing. In der Tiersymbolik verkörpern Erdferkel die Gabe, verborgene Dinge aufzuspüren. Möglicherweise hat dieses freundlich dreinblickende Tierchen noch eine weitere Bedeutung, jedenfalls scheint es äußerst beliebt zu sein und wird ähnlich einem Glücksbringer behandelt. Die Koreaner streicheln es, kuscheln damit und knutschen die Nase des Schweinchens. So behält das Erdferkel seinen goldgelben Glanz. Manchmal genügt aber auch etwas vorausschauende Weitsicht, um seinem Glück auf die Sprünge zu helfen. So kommt uns ein schier endloser Stau entgegen, als wir den Bulguksa Tempel verlassen. Gut, dass wir so früh hierher gekommen sind. So konnten den Tempel unbeschwert genießen und bleibt genug Zeit für unseren zweiten Programmpunkt.