Der dritte Morgen in Südkorea beginnt mit einer Überraschung. Beim Frühstück drückt uns der Hotelbesitzer zwei Mäppchen mit Sammeleintrittskarten in die Hand. Darin enthalten sind sämtliche wichtigen Paläste von Seoul wie der Changdeokgung. Er hat es von bereits wieder abgereisten Gästen bekommen, die es schade fänden, die Eintritte ungenutzt verfallen zu lassen. Wir wussten von diesen Eintrittskarten, hatten aber darauf verzichtet. Stattdessen wollten wir uns auf wenige Paläste in Seoul konzentrieren. Entgegen unserer Planung geht es also mit der U-Bahn zum Changdeokgung. Vielleicht haben wir ja Glück und werden in den Geheimen Garten des Palastes eingelassen. Denn selbst dafür finden sich Eintrittskarten in den Mäppchen.
So stehen wir um Punkt 9:40 Uhr beim Haupttor Donhwamun und werden zuallererst darauf hingewiesen, dass um halb zwölf die nächste englische Führung durch den Geheimen Garten stattfinde. Am besten sei es, wir würden uns schnell zwei Plätze reservieren, um sicher daran teilnehmen zu können. Wir gehorchen und eilen an der Palastanlage vorbei zum Tickethaus des Secret Garden. Dort angelangt, folgt die Ernüchterung auf den Fuß: die englisch geführte Mittagstour ist längst ausgebucht. Allerdings gäb für die Tour am späten Nachmittag noch freie Plätze. Die Enttäuschung kommt nicht unerwartet. Genau wegen diesem Ansturm wollten wir auf einen Besuch im Changdeokgung verzichten. Zum Glück aber erkennt die Ticketverkäuferin Annettes Enttäuschung und schlägt vor, mit der nächsten Gruppe Koreaner mitzugehen. Das ist doch eine gute Sache. Denn für diese Tour müssen wir nur zehn Minuten warten.
Pünktlich stehen wir beim Schlagbaum zum Geheimen Garten. Der Aufpasser schaut ungläubig und meint nur »Is Korean«. Wir nicken freundlich. Schließlich macht er den Weg frei und können wir in die geheime Welt der königlichen Gärten eintreten. Der Biwon, also der Geheime Garten, entstand in den Jahren 1400 und 1418, während der Regierungszeit Königs Taejong, dem dritten König der Joseon Dynastie. Der Garten war damals sowohl über den Changdeokgung als auch vom benachbarten Changgyeonggung aus zugänglich; das freilich nur für eine handverlesene Elite. Die erste Blütezeit des Gartens endete 1592 mit der Japanischen Invasion. Zuvor akkurat gepflegte Beete und Anlagen wurden Opfer sinnloser Zerstörungswut. Seine Renaissance erlebte der Biwon durch die 1623 begonnenen Restaurierungsmaßnahmen. Die nachfolgenden Regenten führten die Arbeiten fort und formten somit das heutige Erscheinungsbild.
Auf 32 Hektar entstand eine Parkanlage, die wie Englische Gärten möglichst natürlich erscheinen sollte. Exquisit passt sich die künstliche Idealwelt an der Topographie und den natürlichen Gegebenheiten an. Durch kleine Täler fließt der Ongnyucheon-Bach und bildet hie und da idyllische Teiche. Der Biwon gilt damit als Glanzpunkt konfuzianischer Gartenarchitektur. Während die Koreaner unserer Gruppe gebannt der Gartenführerin lauschen, lesen wir die Infotafeln vor Ort und entfernen uns langsam. Leider wird die Führerin von einem Aufpasser begleitet. Auch er ist ein Koreaner, sodass er nicht sofort aus der Gruppe hervorsticht. Dezent verweist er uns wieder auf unseren Platz bei den anderen. Noch immer hat der Geheime Garten seine Restriktionen.
Der Weg führt uns leicht bergan über eine breite Straße in den Wald. Sowie wir wieder im Freien sind, erreichen wir ein Ensemble an Pavillons und kleineren Palästen. Sie alle setzen den Lotusteich Buyongjeong malerisch in Szene. Hier darf sich die Gruppe verstreuen und nach Herzenslust durch die Kulisse schlendern. Fürchten wir, dass der Lotusteich im nächsten Moment belagert wird, lernen wir nun die Vorteile einer koreanischen Gruppe kennen. Diszipliniert bleiben sie eng geballt beieinander stehen. Lediglich ein ebenfalls in die Gruppe geschummelter Kubaner nutzt die Gelegenheit, um auszuschwärmen und alleine durch die Pavillons zu spazieren.
Der Biwon diente mehreren Zwecken: Er war Ort für Bankette und militärische Übungen. Hauptsächlich aber pflegten die Könige hier ihre Muße, Kunst und sportliche Aktivitäten in der idealisierten Natur. Im Buyongjeong hat der König geangelt. Gleich dahinter befindet sich der Jahamnu Pavillon mit der königlichen Privatbibliothek. König und Königin betrieben in einzigartiger Weise eine rituelle Zucht von Seidenraupen im Geheimen Garten.
Nördlich des Buyongjeong treffen wir auf die Yeongyeongdang-Residenz. Der Kronprinz Hyomyeong hielt hier 1828 die Jinjakrye-Zeremonie für seinen Vater ab. Es sollte die königliche Autorität stärken. König Gojong hingegen nutzte die Anlage lieber als Sommerresidenz und baute sie 1865 zu ihrer heutigen Form um. Die Höfe blieben ungepflastert und auch die Wände der Behausungen wurden bewusst schlicht gehalten. So sollte die Residenz das Leben einfacher Leute vermitteln.
Immer wieder begegnen wir dem Bachlauf Ongnyucheon. An vielen Stellen wird das Rinnsal von zierlichen Brücken überspannt. Hübsche Pavillons laden am Wasser zum Verweilen ein. Möglichkeiten dafür bieten sogar die geführten Touren. Das Tempo ist gemächlich gewählt, sodass wir uns angenehm entschleunigt durch den Geheimen Garten bewegen. Im nördlichen Teil des Gartens befindet sich der Soyoam-Felsen. In den Stein wurde eine Rinne geschlagen, durch die Wasser geleitet wird. Der dadurch geschaffene Wasserfall symbolisiert den Ursprung des Ongnyucheon. Dazu ist in der Handschrift des Königs Sukjong ein von ihm erfasstes Gedicht in den Fels gehauen, welches die Schönheit der umgebenden Landschaft beschreibt. Offenbar befinden wir uns hier auf der alten Spielwiese des Königs. Beim Soyoam feierte er Partys oder schrieb Gedichte, während Weinbecher auf dem Wasser schwammen.
Langsam endet unsere Reise durch den Geheimen Garten des Changdeokgung. Während die Koreaner brav der Führerin zum Ausgang folgen, kapseln wir uns endgültig ab und spazieren nochmals zum Lotusteich Buyongjeong. Da sich dort Toiletten und ein Andenkenladen befinden, ist dies sogar erlaubt. Wir genießen nochmals in Ruhe den Blick über den Teich, bevor wir zurück in den Palast gehen. Überwältigt von den vielen schönen Eindrücken im Biwon fällt es uns jetzt umso schwerer, uns wieder mit den »normalen« Palastgebäuden zu beschäftigen.
Nahe dem Eingang zum Geheimen Garten befindet sich ein Durchgang zum Changgyeonggung, dem Palast des Blühenden Glücks. Der Palas stellt eine Art Vorgängerbau des Gyeongbokgung dar. Zwischen 918 und 1392 diente er als Sommerresidenz der Goryeo-Herrscher. Als König Taejo Ende des 14. Jahrhunderts Seoul erobert hatte, residierte er bis zur Fertigstellung des Gyeongbokgung auf dem Anwesen. Danach fanden die Königinnen sowie auch die Konkubinen der Herrscher im Changgyeonggung eine standesgemäße Unterkunft.
Auf uns wirkt der Changgyeonggung lieblos in die Landschaft gestellt. Ähnlich erging es wohl auch den Japanern, die während der Besatzungszeit einen Zoo auf dem Gelände einrichteten. Erst 1983 wurde der zoologische Garten von der südkoreanischen Regierung verlegt. Leider ist ihr für die Nachnutzung der frei gewordenen Flächen bis dato keine vernünftige Idee gekommen. So verweilen wir nur kurz in einer der Hallen, bevor wir zurück durch den Changdeokgung zum Ausgang laufen. In Gedanken schweifen wir nochmals durch den herrlichen Garten. Es wäre wirklich ein Jammer gewesen, hätten wir die Karten verfallen lassen.