Am späten Abend landen wir auf dem Flughafen Seoul Gimpo. Anders als der Airport Incheon ist dieser über eine Bahnlinie mit der Innenstadt verbunden. Unser Hotel befindet sich mitten in Downtown Seoul, am Stadtkanal Cheonggyecheon. Dieser sollte mit einmal Umsteigen gut zu erreichen sein. So zumindest lautet unsere Theorie. Tatsächlich gelangen wir planmäßig zur Station Jongno. Leider aber verwehrt uns das Drehkreuz den Ausgang. Was ist passiert? Der Zug bis zur Seoul Station gehört zu einem anderen Tarifsystem. Trotzdem konnten wir einfach zur U-Bahn durchlaufen, ohne ein weiteres Ticket zu lösen. Wir üben uns im Anstand (Lars: »Das ist meine leichteste Übung.«) und versuchen, dieses am nächsten Automaten nachzulösen.
Doch auch hier kommen wir nur bedingt weiter. Der Kasten weigert sich, Lars Karte zu akzeptieren (nochmal Lars: »War ja klar.«). Während wir am Verzweifeln sind, lässt sich weit und breit kein Personal blicken. Wahrscheinlich hockt dieses gerade vor den Monitoren der Überwachungskameras und lacht sich über uns kaputt. So kann es dann auch beobachten, wie zwei Europäer ihre Koffer unters Drehkreuz durchschieben, um sich gleich hinterher zu zwängen. Aber wie heißt es so schön: Wo ein guter Wille ist, da darf man sich auch einen Weg bahnen.
Unbehelligt von den Wachmännern stehen wir wenige Augenblicke später wieder mitten in Seoul, umringt von Hochhäusern. Nun müssen wir nur noch unserem Navi folgen, das uns quer durch die düsteren Gassen von Downtown Seoul lotst. Das hatte ich mir moderner vorgestellt. Doch zwischen den vielen Hochhäusern reihen sich noch immer die alten kleinen Werkstatt- und Geschäftshäuser. Rings um das Hotel Nafore entdecken wir die Werkstätten der Medaillenpräger und Pokalschmiede. Sie vermitteln uns ein Gefühl der Sicherheit. Denn etwaige Gangster sollten es weniger auf uns als auf den Inhalt dieser Läden abgesehen haben.
Unser letztes Hotel in Südkorea, das Nafore, ist einiges nobler als das erste, das Roadhouse Hongdae Shinchon. Wir bekommen ein riesiges Zimmer, total bequeme Betten und ein herrliches Badezimmer. Das Frühstück ist vom Feinsten, mit warmen Speisen, und um das benutzte Geschirr kümmert sich das Personal. Eine Gemeinsamkeit beider Hotels ist die Dachterrasse. So fahren wir auch hier nach dem Frühstück erst einmal mit dem Lift nach oben und verschaffen uns einen Überblick über die Downtown. Abgesehen von dem winzigen Viertel unterhalb vom Hotel Nafore, sind wir hier von modernen Bürohäusern umgeben.
Das Programm für unseren letzten vollen Tag in Südkorea ist überschaubar. Als Erstes suchen wir die Haltestelle für den Flughafenbus, um nicht am nächsten Morgen unnütz durch die Gegend zu irren. Diese ist in der Jong-ro leicht zu finden. Tagsüber wirken auch die Gassen unterhalb des Hotels Nofore weit weniger unheimlich. Unser Spaziergang führt an den Handwerksläden vorbei zum Cheonggyecheon. Treppen leiten hinunter an den Fluss in eine völlig andere und vor allem ruhige Welt.
Der Cheonggye-Fluss bietet einen 10,9 Kilometer langen Naherholungsraum mitten in der Stadt Seoul. Angesichts der Idylle ist kaum zu glauben, wie sehr sich dieser Bereich im Lauf der Jahre mehrmals komplett geändert hat. Im Jahr 1904 startete ein erstes Sanierungsprojekt entlang des Flusses. Doch die japanische Herrschaft und der Koreakrieg ließen das Projekt stocken. Nach dem Koreakrieg bildete sich entlang des Flusses ein Slum mit schäbigen Häuschen und Bretterverschlägen. Die damit einhergehende Vermüllung machte einen Schandfleck aus dem Cheonggyecheon. So kam es, dass die Kloake später schlichtweg mit einer Hochstraße überbaut wurde. Das Gebiet avancierte zum Vorzeigeobjekt für eine erfolgreiche Industrialisierung und Modernisierung von Südkorea.
Erst mit dem Bürgermeister Lee Myung-bak erfolgte ein Umdenken. Im Juli 2003 initiierte er ein Projekt zum Rückbau der Hochstraße sowie zur Wiederherstellung des Flusses. Natürlich stieß er auf erbittertem Widerstand. Immerhin musste eine verkehrsreiche Straße weichen. Zudem war der Fluss nach jahrelanger Vernachlässigung und durch die Versiegelung seiner Umgebung fast ausgetrocknet. Zur Wiederbelebung sollten täglich 120.000 Kubikmeter Wasser aus dem Han-Fluss, seinen Nebenflüssen sowie dem Grundwasser aus U-Bahn-Stationen eingepumpt werden. Zuletzt monierten seine Amtsvorgänger die damit verbundenen immensen Kosten! Dennoch hat die Wiederherstellung der Natur sowie auch die Geschichte und Kultur der Region genug Zuspruch gefunden.
Das Resultat lässt sich sehen: Im Jahr 2005 wurde der Cheonggyecheon für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das saubere Wasser und die Grünanlagen schufen einen Lebensraum für Fische, Vögel und Insekten, deren Artenvielfalt seitdem erheblich zugenommen hat. Auch das Stadtklima verbesserte sich spürbar. Bleibt die Frage nach den Folgen der fehlenden Straße? Durch den Abriss der Autobahn hat die Verkehrsdichte in den umliegenden Straßen natürlich zunächst zugenommen. Um nicht ständig im Stau zu stehen, sind viele Menschen auf Busse und U-Bahnen umstiegen. Mit der Zeit waren es so viele, dass der Straßenverkehr schlussendlich abgenommen hat.
Ob die inzwischen täglich 98.000 Kubikmeter an gepumpten Wasser ein ökologischer oder ökonomischer Irrsinn sind, ist bis heute umstritten. Sicher aber ist, dass der Cheonggyecheon ein besonderes Flair in der Stadt verbreitet. Mehrere Brücken überspannen das Gewässer. Bei einigen handelt es sich um historische Bauwerke, die saniert und wieder aufgestellt wurden. Dazwischen befindet sich das Banchado Kachelbild, die mit 186 Metern weltweit längste Kachelmalerei. Sie zeigt Zeremonien und historische Ereignisse aus der Joseon-Zeit. Ein paar Schritte weiter versprühen die 3D-Flowers einen Hauch von Kitsch. Tausende gehäkelte Blumen zieren dort die Wand. In diesem Bereich sieht man bis zum Wasserfall, den Beginn des Cheonggyecheon. Im Dunkeln wird dieser blau angestrahlt. Mit den bunten Hochhäusern drum herum bildet der Cheonggyecheon einen wirklich angenehmen Platz zum Flanieren, Joggen und Beisammensein.
Wir haben noch gültige Eintrittskarten für den Deoksugung Palast. Auf dem Weg dorthin spazieren wir an der Seoul Hall Of Urbanism vorbei. Das Dach zieren gerade riesige weiße Ballons. Was auch immer sie bedeuten sollen, es ist witzig, wie sie über uns im Wind schaukeln. Als wir ein Stück weiter den Deoksugung erreichen, ist der Eingang verschlossen. Es lässt uns unbekümmert. Wir haben die letzten drei Wochen genug Tempel und Paläste gesehen. So spazieren wir weiter zu den Stone drums und über den Seoul Plaza.
Langsam wird es Zeit für ein Restaurant. Hier in Downtown ist alles sehr ordentlich und sauber, zugleich aber auch sehr geschäftig. Leider stehen vor den ansprechend wirkenden Restaurants die Menschen mal wieder Schlange. Als Alternative gäbe es eine Menge Fastfood. So schön dieser Stadtteil auch ist, wir beschließen, nochmals in das gemütlichere Viertel Hongdae zu fahren. Dort schlendern wir zu unserem bekannten Bulgogi-Restaurant. Die Wirtin freut sich, uns nach so langer Zeit wieder zu sehen und verwöhnt uns mit einer weiteren Pfanne voller Leckereien. Zum Abschluss gönnen wir uns einen Milchshake im 943 King's Cross und genießen unseren letzten Abend in Seoul.
Auch wenn nicht jeder unserer Programmpunkte geklappt hat, so haben wir in den zurückliegenden drei Wochen doch unglaublich viele neue Eindrücke gewonnen. Allein ein Blick auf rund 5.000 geschossene Fotos sowie 1.000 kurze Filmsequenzen sagt uns, dass wir genug Stoff für einen unserer bisher längsten und schönsten Reiseberichte im Gepäck haben. Wir erinnern uns an mehrere Südkoreaner, die uns vor der Reise gefragt hatten, was es in ihrem Land denn überhaupt Interessantes gäbe? Das ist unsere Antwort.