Als Wanderbuchautoren sind wir daheim ständig in den Bergen unterwegs. Mal ein paar Tage nicht Wandern zu müssen, sollte also wie eine Kur wirken. Für den Fall, dass wir bei unserer Reise durch Südkorea dann doch unter Bewegungsmangel leiden sollten, habe ich im Gayasan Nationalpark eine Wanderung vorbereitet. Mit mehr als 800 Höhenmetern gelangte der Track flugs auf unser Navi, blieb in der weiteren Planung jedoch zunächst unbeachtet.
Einige Wochen später stehen wir nun in einem der Höfe des Haeinsa Tempels am Fuße des Berges Gayasan. Es ist weniger die Langeweile, die uns antreibt, eher unsere Entdeckerfreude. Wir haben traumhafte Bedingungen zum Wandern. Und noch ist der Vormittag nicht verstrichen, womit uns auch für eine längere Tour genügend Zeit bleibt. Also packen wir's und steigen einfach soweit hinauf, bis uns die Lust vergeht.
Hinter dem Haeinsa, auf der gegenüberliegenden Flussseite, treffen wir bald auf einen weiteren Tempel, den Yongtap Seonwon. Dieses Meditationskloster entstand zu Ehren des buddhistischen Meisters Baek Yongseong Jinjong. Er studierte die chinesischen Schriften der Tripitaka und versuchte diese, so gut wie möglich sinngemäß zu übersetzen. Er war also so eine Art koreanischer Luther. Yongseong beteiligte sich auch an der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919 gegen die japanische Besatzung. Als spiritueller Meister des Jogye-Ordens, diente er viele Jahre im Haeinsa Tempel, bis er 1988 an diesem Ort starb. Für seine Hingabe zur nationalen Unabhängigkeit dankte ihm auch die koreanische Regierung. Sie ließ die Anlage im erheblichem Maße aufbauen und erweitern. Ein dementsprechend modernes Antlitz besitzen heute einige der Tempelgebäude.
Wenige Schritte nach der Brücke zum Yongtap-Seonwon beginnt unser eigentlicher Wanderweg bei einer kleinen Rangerstation. Hier wird eine Wander-App angeboten, die von den Smartphone begeisterten Koreanern sicherlich dankbar angenommen wird. Leider jedoch sind sämtliche Informationen nur auf Koreanisch verfügbar. Wir müssen auf unser Navi vertrauen und ansonsten versuchen, ohne technische Hilfsmittel im Wald zu überleben. Die Schranke zum Wanderweg ist geöffnet. Wir dürfen also hinein in den Wald. Die Sicherheitsvorkehrungen in diesem fernen Land begeistern uns von Tag zu Tag mehr.
Entlang des Flusses geht es auf felsigem Pfad tief in den Wald. Schilder mit niedlichen Bären machen darauf aufmerksam, dass wir uns in einem Nationalpark befinden. Natürlich bleiben wir auf den Wegen. Schon alleine, weil der Wald sehr dicht und unter anderem mit Bambus zugewachsen ist. Der Wanderweg selbst ist keinesfalls so einfach zu begehen wie bei Seoraksan. Auch die Rastplätze im Wald bestehen aus wild dahin gelegte Baumstämme. Hier finden wir erste Warnschilder bezüglich der Tierwelt.
Im Gayasan Nationalpark soll es Bären geben. So wie wir das Schild deuten, handelt es sich dabei um Kragenbären. Auch hier gilt, diese nicht zu füttern, geschweige sie zu ärgern. Die Wahrscheinlichkeit, auf einen Kragenbären zu stoßen, scheint allerdings noch geringer als in Kanada auf einem gut besuchten Wanderweg Schwarzbären zu sichten. Doch der Koreaner geht auf Nummer sicher. Der erste Wanderer, der uns hier begegnet, hat tatsächlich ein Glöckchen an seinem Rucksack befestigt. Dass eben solch ein Gebimmel die Tiere neugierig macht und somit eher anlockt als vertreibt, erfährt man dann wiederum in Kanada.
Auf den ersten 1,3 Kilometern sind nur wenige Höhenmeter zu meistern. Doch dann wird es steiler und an manchen Stellen ist der gestufte Weg mit Balken oder Rundholz gesichert. Eigentlich hätte ich gedacht, dass wir unterwegs irgendwo einen Ausblick auf den Haeinsa Tempel bekommen würden. Stattdessen aber führt uns der Pfad stetig bergan durch den schattigen Wald, ohne jegliche Aussicht. Je höher wir kommen, umso niedriger wird der Bewuchs, bis die Bäume schließlich die Sicht auf einen blauen Himmel freigeben.
Aussicht über die grünen Bergkuppen im Gayasan Nationalpark
Nach drei Kilometern und gut 550 Höhenmeter erreichen wir die erste Stahltreppe, welche den Aufstieg erleichtert. Kurze Zeit später verlassen wir den hohen Wald. Entlang schroffer Felsen und niedrigem Buschwerk wechselt das Wanderweg nun von felsigem Pfad zu luxuriösen Treppen und Stegen. Mit einem mal ist die Aussicht traumhaft. Wir blicken weit über unzählige grüne Hügel, bis die letzten im Dunst verschwinden.
Plötzlich hallt eine Stimme durch einen Lautsprecher aus den Felsen. Durch einen Bewegungsmelder wird eine längere Durchsage ausgelöst. Was auch immer sie sagt, ob Steinschlaggefahr oder sonst was, es scheint nur die Koreaner zu betreffen. Sonst hätte man doch sicherlich auch ein Hinweisschild auf Englisch aufgestellt.
Wir erreichen langsam die Gipfelregion des Gayasan. Hier ist etwas kraxeln angesagt. Doch die Felsplatten sind griffig und also gut und einfach zu meistern. So gelangen wir unterhalb des Gipfel Sangwangbong zu einem Rastplatz, der von einer koreanischen Wandergruppe belagert wird. Es ist schon beachtlich, dass wir unterwegs nur einer Handvoll Menschen begegnet sind. Und hier tummeln sie sich und verspeisen den Inhalt ihrer Rucksäcke. Bei dem Rastplatz teilt sich außerdem der Weg zu den beiden Gipfel des Gayasan. Wir nehmen zuerst den Sangwangbong in Angriff.
Auch der Gipfel Sangwangbong ist perfekt erschlossen. So schafft es so ziemlich jeder, ihn zu erklimmen. Treppen führen hinauf bis zur Ebene mit dem Gipfelstein. Wir befinden uns hier auf 1430 Meter über dem Meer und haben somit gut 880 Höhenmeter in den Beinen. Es ist Zeit, ebenfalls eine kurze Pause einzulegen. Im Windschatten der Felsen knabbern wir Kekse. Für Koreaner sind wir eindeutig Exoten. Ohne berggerechte Mahlzeit im Rucksack startet kein Koreaner eine Bergtour. Halb entsetzt, halb verwundert blicken sie auf unsere Trekkingsandalen. Wir bräuchten dringend richtige Wanderschuhe. Danke für den hilfreichen Tipp.
Der Chulbulbong ist der zweite Gipfel des Gayasan. Er wird auch Chilbulbong genannt. Vom Sangwangbong aus ist dieser schon gut zu sehen. Knapp 250 Meter trennen uns davon. Der Weg dorthin verläuft bequem über Treppen und einen kurzen Kamm, und erfordert am Schluss dann doch ein wenig Kraxelei. Wir sind gerade mal auf 1433 Meter über dem Meer. Doch der Gipfelstein mit chinesischer Inschrift vor dem tiefblauen Himmel sieht einfach beeindruckend aus. Und die Aussicht von da oben: ein Traum!
Ein Mädchen posiert auf dem Chulbulbong für ihr perfektes Bild in alle Himmelsrichtungen. Als sie uns bemerkt, bemüht sie sich sofort, dass auch wir beide ein tolles Gipfelbild bekommen. Ein weiteres Mal sind wir offensichtlich die einzigen Ausländer an einem unserer Ziele. Da ist die Hilfsbereitschaft der Koreaner immer sehr groß. Wir genießen die zauberhafte Aussicht. Das Blättermeer hat bereits die bunte Herbstfärbung eingenommen.
Traumhafte Aussicht beim Abstieg über den Gayasan Nationalpark
In der Ferne sehen wir kleine Ortschaften. Ganz weit weg können wir sogar die Großstadt Daegu schwach im Dunst erkennen. Die meisten verbinden mit dem Gayasan Nationalpark lediglich den Haeinsa Tempel und lassen das Drumherum außer acht. Doch diese Wanderung gehört ganz sicher zu den Highlights unserer Reise.
Zurück geht es anschließend auf dem gleichen Weg wie hinauf. Eine zweite Möglichkeit wäre der Parkplatz Baegundong in dem Dorf Baegun-ri. Wenn das Auto beim Haeinsa steht, macht das allerdings wenig Sinn. Wir machen uns also gemütlich und knieschonend auf den Rückweg. Einen kleinen Abstecher gönnen wir uns aber doch. Kaum wieder im Wald, führt links ein Abzweig zum Standing Stone Buddha. Die etwa 2,10 Meter hohe Buddha-Statue aus Stein steht etwas versteckt hinter einer Felswand. Sie entstand in etwa während dem Übergang der Silla- zur Goryeo-Zeit. Ganz genau weiß das niemand. Sicher ist nur, dass sie schon über 1000 Jahre auf dem Buckel hat. Damit darf sie auch etwas verwittert aussehen.
Am späten Nachmittag sind wir schließlich wieder zurück bei der Tempelanlage. Inzwischen ist es hier ruhig geworden. Doch das Sunjae Café ist noch geöffnet. Hier gönnen wir uns den täglichen Milchkaffee und ein paar leckere Biokekse. War beim Frühstück zunächst nur der Tempel im Gespräch, so schauen wir nun stolz auf eine knapp 13 Kilometer lange Wanderung und gut 920 Höhenmeter zurück, eh wir einen traumhaft schönen Tag ausklingen lassen.