Nach zwei Nächten in Daegu frühstücken wir noch einmal gemütlich im February Hotel SeongSeo. Dann aber werden die Koffer einmal öfter ins Auto gehievt und geht es weiter Richtung Ostmeerküste ins 80 Kilometer entfernte Gyeongju. Die Fahrt ist kurz und frei von Staus. So erreichen wir am zeitigen Morgen das historische Zentrum der Stadt. Umsichtig steuert Lars den Wagen durch die engen Gassen. Im Jahr 2000 erhielten sie allesamt den Status als UNESCO-Weltkulturerbe, die etlichen Silla-Bauten und Denkmäler natürlich mit eingeschlossen.
Ob es optimal ist, inmitten der Historie zu wohnen, wird sich zeigen. Zunächst einmal gilt es, einen Parkplatz zu finden. Danach bleibt das Auto für den Rest des Tages stehen. Aber was reden wir da? Direkt vor unserem Hanok Siwoowadang ist eine Lücke, in die wir perfekt hinein passen. Das Siwoowadang ist zwar neu, fügt sich jedoch nahtlos in die traditionelle Umgebung ein. Durch die frühe Ankunft müssen wir uns etwas gedulden. Die Zimmer brauchen noch Zeit, sodass wir gleich zur ersten Tour durch das Welterbe durchstarten. Nun ja, fast, denn schon an der nächsten Ecke gönnen wir uns den obligatorischen Milchkaffee im Café Arte.
Als wir schließlich den großen Faltplan von Gyeongju ausbreiten, staunen wir nicht schlecht. Auf der Übersichtskarte sind die Straßen fast unkenntlich überdeckt von den Namen der vielen Sehenswürdigkeiten. Wie soll man sich da orientieren? Sicher tausendmal springt uns allein das Wort »Tomb« entgegen. Offensichtlich hat sich Gyeongju im Laufe der Jahre in eine Nekropole gewandelt. Der Ort war 992 Jahre lang die Hauptstadt der Silla-Dynastie. Nach der Eroberung der beiden konkurrierenden Staaten Baekje und Goguryeo nutzte das Vereinigte Silla die Stadt für weitere 300 Jahre als Kapitale. Solch eine lange Zeit hinterlässt ihre Spuren. Und obgleich das Silla-Reich vor über 1000 Jahren unterging, findet man in Gyeongju bis dato mehr Tempel, Palastruinen und Königsgräber als irgendwo sonst in Südkorea. Sie alle machen die Stadt heute zum historischen Zentrum des Landes.
Gyeongju ist eine mittelgroße Stadt mit rund 280.000 Einwohnern. Doch anders als bei den typisch koreanischen Städten, fehlen hier die Hochhaussiedlungen. Das hat einen einfachen Grund: der Bau von Wolkenkratzern ist schlichtweg untersagt. So hat Gyeongju sein historisches Flair bewahrt und lebt inzwischen alleine von seiner Geschichte und dem kulturbezogenen Tourismus. Da wir den Ort an einem Wochenende besuchen, herrscht entsprechend viel Betrieb.
Das Zentrum von Gyeongju ist sehr kompakt. Somit sind viele Sehenswürdigkeiten gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Auf Zweites verzichten wir lieber, da die Gassen teilweise voller Menschen sind und wir fußläufig doch besser unterwegs sind. Hauptanziehungspunkt ist der Daereungwon, der Park der großen Tumuli, den Hügelgräbern der Könige. Doch auch außerhalb des Parks gibt es immer wieder Wiesen, auf denen bizarr wirkende Königsgräber das Landschaftsbild prägen. Sie wirken unnatürlich, wie gewaltige Maulwurfshügel.
Ganz ähnlich verhält es sich im historischen Bereich des östlichen Gyeongju. Hier steht zudem das Cheomseongdae, das älteste erhaltene Observatorium von Ostasien aus dem 7. Jahrhundert. Mit einer Höhe von 9,70 Metern ist es wohl eine der kleinsten Sternwarten der Erde, welche eher einem Kaminofen in Form eines umgedrehten Wasserkelchs gleicht. Bei dem Bauwerk zählt die Symbolik. 27 übereinander liegende Steinschichten bilden den Turm. Die damals herrschende Königin Seondeok war die 27. Monarchin im Silla-Reich.
Zwölf große Steine bilden das quadratische Steinfundament, für jeden Monat gibt es also einen Stein. Insgesamt zählt das Observatorium 30 Steinschichten, bezogen auf die Monatstage. 366 Steine wurden für das gesamte Bauwerk benötigt. Also ein Stein pro Tag in einem Schaltjahr des Sonnenkalenders. Für sein Alter von fast 1400 Jahren ist das Cheomseongdae gut erhalten. Unklar ist, ob das Bauwerk für astronomische, astrologische oder anderweitige rituelle Zwecke erbaut wurde. Auf jeden Fall aber ist es zwischen den vielen Maulwurfshügeln zum Wahrzeichen von Gyeongju geworden.
Südlich des Observatoriums befindet sich das Gyerim, der Hahnenwald. Einer Legende nach entstammt von hier der Ahnherr der Kims, dem bedeutendsten Silla-Geschlecht. König Talhae sah in dem Wäldchen ein großes Licht. Als der König den Wald betrat, erschien ein weißer Gockel und lockte ihn bis zu einem Baum, in welchem eine goldene Schatulle hing. Ein kleiner Junge lag darin. Mit dem Baby im Arm kehrte der König in seinen Palast zurück, begleitet von tanzenden Vögeln und Säugetieren. Dies deutete der König als Zeichen, gab dem Jungen den Namen Alchi, was »Kleines Kind« bedeutet und ernannte ihn zum Kronprinzen. Wegen der goldenen Truhe war sein Klanname Kim, wie Gold. Er ist somit der Ursprung des häufigsten Familiennamens Koreas.
Durch den Wald gelangen wir zum Grabhügel des König Naemul. Da jedoch ein Hügel dem anderen gleicht, schlendern wir bald weiter zum Wolseong-Park und durch die zerstörte Silla-Festung Banwolseong, der Halbmond-Festung. Hier müssen wir einige Umwege in Kauf nehmen, da die Koreaner gerade Teile der Festung und insbesondere die antiken Teiche rekonstruieren. Vom erhöhten Wall des Wolseong Waldes bekommen wir einen guten Blick über das Baugeschehen. Am Ende des Waldes finden wir das Seokbinggo, ein halb in die Erde gebautes Eishaus aus dem 18. Jahrhundert.
Am Ententeich Anapji vorbei sowie jenseits der Straße gelangen wir zum Donggung Palast. Noch eine Palastbesichtigung an nur einem Tag wäre wohl zu viel des Guten. Wir wollen langsam wieder zurück zu unserem Hanok und uns fürs Abendessen richten. Auf dem Rückweg durch den Wolseong-Park verleitet uns aber doch ein Schild zum Gyochonm Hanok Village und zur Woljeonggyo Brücke. Leider trüben die vielen parkenden Autos das Bild des Villages. Einzig die Woljeonggyo Brücke über den Fluss Namcheon strahlt herrlich bunt in der Abendsonne.
Die Abendsonne ist es auch, die viele Koreaner nach Gyeongju zieht. Wir spazieren zurück in das historische Zentrum und nehmen dazu den Umweg durch den Wildblumengarten. Hier steht gerade ein Feld mit Rosa Haargras in voller Blüte. Die ährengleichen Blüten im ungewöhnlichen Farbton rosa wippen sanft im Wind und bieten ein beeindruckendes Bild. So etwas bringt sämtliche Koreaner aus dem Häuschen. Dicht gedrängt hängen sie an der Absperrung, bemüht, das perfekte Selfie zu erhalten.
Uns ist das zu viel Rummel. Wir gehen zurück in die Stadt und besuchen nochmals das Café Arte. Diesmal ist die Dachterrasse geöffnet und bietet uns einen wunderschönen Blick über die Dächer von Gyeongju. Leider stellt sich auch hier die Suche nach einem geeigneten Restaurant als schwierig heraus. Alles, was nach Pizzeria aussieht, öffnet erst in zwei oder drei Stunden. Zunehmend hungrig und ratlos kommen wir am Julies vorbei, wo wir zu Mittag eine Kleinigkeit gegessen hatten. Beim Vorbeilaufen erkennen sie uns wieder und verspüren wohl Mitleid mit uns. Sie öffnen frühzeitig die Küche, sodass wir vor dem großen Ansturm in aller Ruhe genüsslich schlemmen können. Auch für das abendliche Kozel ist gesorgt. Entlang der Hauptstraße von Gyeongju reiht sich eine winzige Kneipe an die andere. Dort finden wir schließlich ein gemütliches Plätzchen, um den Abend in trauter Zweisamkeit ausklingen zu lassen.
Am Mittag ist unser Zimmer im Siwoowadang fertig. Stets freundlich lachend führt uns die Gastgeberin hinauf zum Zimmer. Es ist schlicht eingerichtet, wirkt aber trotzdem urgemütlich. Wie es bei einem Hanok üblich ist, gibt es kein Bettgestell. Die Matratze liegt direkt auf dem Boden und ließe sich bei Platzbedarf einrollen. Zwei Sitzkissen an einem niedrigen Tisch ersetzen Stuhl oder Sessel. Es ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Doch wir fühlen uns auf Anhieb wohl.
Der Gedanke, uns könnte nachts so nah am Boden kalt werden, verflüchtigt sich alsbald. Das Haus verfügt über eine Fußbodenheizung, sodass wir in diesem landestypischen Bett besser schlafen als in den meisten Standartbetten, die wir bisher in Korea hatten. Das sternförmige Dachgebälk über uns ist ein Kunstwerk für sich. Der Hanok ist ein Haus zum Träumen. Sämtliche Zimmer sind über den, ums gesamte Gebäude umlaufenden Balkon zu erreichen. Wir haben zwar eine verglaste Schiebetür. Aber fürs Auge gibt es eine weitere Holzgittertüre, die mit Hanji, ein auf traditionelle Weise hergestelltes Maulbeerpapier, bespannt ist.
Bis auf die Webspinnen unterm Dachüberstand wirkt alles winzig. So ist es dann auch beim Frühstück. Ein kleiner Tisch steht voller Schüsselchen, die am ersten Tag mit europäisch geprägten Frühstücksspeisen, wie Toast und Rührei gefüllt sind. Einzig das Kimchi ist Koreanisch. Am zweiten Tag ist neben dem Kimchi auch der Rest koreanisch. Und was auch immer wir aufgetischt bekommen, es ist lecker und reichlich. Zur Not hätten wir außerdem einen Zwergspitz im Haus, welchen Lars liebevoll »Brotaufstrich« tauft, als ihn der Kleine lauthals vom Hof zu jagen versucht.
Mit dem Siwoowadang haben wir uns ein richtig tolles Hanok ausgesucht. Es ist super zentral in Gyeongju gelegen und verfügt trotzdem über ein paar wenige Parkplätze direkt vor dem Haus. Trotz Sprachschwierigkeiten verbringen wir hier einen tollen Aufenthalt und werden von der Gastgeberin mit Tee und Saft verwöhnt. Zum Abschied überrascht sie uns schließlich mit einem Fächer aus Maulbeerpapier, das sie handbemalt hat. Hier hätten wir es gut noch länger aushalten können.