Während die Sehenswürdigkeiten innerhalb von Andong rasch abgehandelt sind, hat die Umgebung der Stadt einiges an Tempeln, Buddha-Statuen und auch Museumsdörfern zu bieten. Das Hahoe Folk Village ist ein repräsentatives Klan-Dorf aus der frühen Joseon-Dynastie. Es zählt zu den letzten bewohnten Dörfern, die aus traditionellen Häusern bestehen. Eine inzwischen überwiegend atheistische Bevölkerung, getrieben vom Turbokapitalismus, hat es schwer, sich mit einem ländlichen Leben abzufinden.
So erleidet das ruhige Andong seit den 1970er Jahren das übliche Schicksal eines ländlichen asiatischen Städtchens. Obwohl sich Andong schnell entwickelte, herrscht ein steter Schwund an Einwohnern. Insbesondere die junge Bevölkerung zieht es nach Seoul und in andere Großstädte. Der Ehrgeiz der Koreaner will bessere Ausbildungs- und Jobmöglichkeiten, vor allem aber träumt jeder vom großen Erfolg und Reichtum.
Als Konsequenz ist in Südkorea wirklich Altes und Traditionelles nur noch schwer zu finden. Die Menschen wohnen in Hochhäusern oder gar Wolkenkratzern, und das am liebsten im Einzugsgebiet einer großen Stadt. Eine Gegenbewegung setzte Ende der 1990er-Jahre ein, als sich Andong mitsamt der traditionsreichen Umgebung zu einem Zentrum für Tourismus und Kultur entwickelte. Hiervon profitierte auch das Bauerndorf Hahoe. Einige Bewohner kehrten zurück in das Dorf und bauten sogar neue Häuser im traditionellen koreanischen Stil. Sie widmeten sich fortan wieder der Landwirtschaft sowie außerdem dem Tourismus, der mehr und mehr in das Dorf einzog. Am 21. April 1999 kam sogar Königin Elizabeth von England zu Besuch. Damit verhalf sie dem kleinen Dorf zu einem deutlich höheren Bekanntheitsgrad.
Von unserem Hotel aus ist das Hahoe Folk Village 25,5 Kilometer entfernt. Uns bleibt also gut Zeit zum Frühstücken, bevor wir uns auf den Weg machen. Leider können wir den von uns gewünschten Parkplatz direkt beim Dorf nicht anfahren. Dieser scheint den Angestellten vorbehalten zu sein, sodass unsere Fahrt auf dem Großparkplatz vor dem Hahoe Marketplace endet. Man will ja auch Geld verdienen. Da ist es praktischer, wenn die Touristen zunächst allesamt durch den Markt und zu den Garküchen gelotst werden. Zum Glück haben wir bereits gefrühstückt. Denn die Läden und Stände öffnen erst am späteren Vormittag.
An der Touristinformation bekommen wir für 5000 Won je ein Ticket. Ein Bus steht gleich um die Ecke bereit und erspart uns den einen Kilometer Fußmarsch zum Dorf. Wir werden heute sicherlich noch genug laufen. Wer nicht so gut zu Fuß ist oder es eilig hat, kann nahe der Bushaltestelle einen Elektrocaddy mieten. Dieser ist für gut vier Personen ausgelegt. Wir indes können uns Zeit lassen, da wir den ganzen Tag für den Ausflug und das Dorf eingeplant haben. So genießen wir schon bald den ersten Blick auf die herbstlich gelben Reisfelder.
Ein drei bis vier Kilometer langer Confucian Culture Trail lädt zu einem Spaziergang durch die Reisfelder ein. Er führt allerdings weg vom Ort. Wir begnügen uns deshalb mit den Feldern am Ortsrand, zumal ein Großteil des Dorfes eh davon umgeben ist. Immer wieder öffnet sich der Blick darauf. Die Reispflanze ähnelt dem Hafer und gehört ebenso zu den Süßgräsern. Allerdings ist der Reisanbau extrem wasserintensiv, da die Felder vom Pflanzen der Setzlinge bis kurz vor der Ernte mit Wasser geflutet werden. Hier scheint diese Anbaumethode vertretbar, denn Wasser hat Hahoe reichlich. Übersetzt bedeutet Hahoe »vom Fluss umgeben«. Dies leitet sich von der Lage innerhalb einer Schlaufe des Nakdong-Flusses ab, welcher das Dorf umfließt und den Reisanbau sichert.
Neben dem Reis werden Baumwolle, Kohlgemüse und vor allem Chili als wichtige koreanische Grundnahrungsmittel angebaut. Nachdem wir verschiedene Felder passiert haben, erreichen wir die Presbyterianische Kirche von Hahoe aus dem Jahr 1921. Sie besitzt einen freistehenden, gemauerten Glockenturm. Laut einer Inschrift läutet dort täglich im Morgengrauen die »Glocke des Lebens«, um die schlafenden Seelen zu wecken. Damit der Klang selbst bis zur hinterste Dorfecke gelangt, ist der Turm mit zwei Megaphonen ausgestattet.
Nach den ersten schönen Eindrücken nehmen wir schließlich Kurs auf das bewohnte Hahoe Folk Village. Wie üblich in Korea sind die einzelnen Grundstücke von Mauern umgeben. Die runden Strohdächer und die aufwendig geschwungenen, mit Giwa-Ziegeln belegten Dächer blitzen nur knapp über die Mauern rüber. Es ist nicht immer auf Anhieb zu erkennen, welche der Grundstücke für Besucher offen stehen und bei welchen der Zutritt weniger gewünscht ist? Das Dorf zählt über 230 Einwohner, die in einer Arbeitsgemeinschaft leben. Wir wollen die Privatsphäre der Menschen natürlich respektieren, anstatt ungeschickt in deren Wohnzimmer hineinzuplatzen. Die Tore zu den Höfen stehen meistens offen. Und gleich beim ersten steht ein kleiner Hund. Er blickt uns neugierig an, verrät aber auch nichts darüber, ob der Zugang möglich ist. Wir gehen weiter.
Bei der Namchon Residence erkennen wir schließlich den Unterschied zwischen bewohnten und unbewohnten Häusern. Der Hof ist sauber gefegt und anstatt der Schuhe, die vor dem Betreten der Häuser ausgezogen werden, stehen Nicht-betreten-Schilder auf der Veranda. Die Hauseingänge dahinter sind geschlossen. Hier kann niemand wohnen. Ein Großteil der Residenz ging 1954 durch ein Feuer verloren. Einzig das Torhaus, das Haupthaus zum Garten und der Sadang, ein Schrein, haben die Zeit überdauert. Die Lehm- und Steinmauern zwischen dem Familienhaus und dem Schrein sind mit verschiedenen Mustern verziert, was dem Ganzen eine besondere Schönheit vermittelt.
Der Erbauer Giqeong gehört der Ryu-Familie an. Seit über 600 Jahren ist Hahoe die Heimat dieser Familie, aus der für Korea wichtige Konfuziusgelehrte und Aristokraten hervorgingen. Von ihnen stammt die unverwechselbare Bauweise der Häuser. Hahoe ist dadurch eines der repräsentativen Vertreter historischer Klan-Dörfer aus der frühen Joseon-Dynastie. Auch die UNESCO hat Gefallen daran gefunden und Hahoe in das Welterbe mitaufgenommen.
Als Nächstes kommen wir zur Juil Residenz. Sie stammt aus dem Jahr 1646 und bildet ein traditionelles Haus mit Innenräumen, Meisterräumen, einer Mühle und einem Schrein. Der Anchae, das Haus der Oberin, ist durch eine Mauer vom Hof getrennt. Es gehört zur traditionellen und konfuzianischen Lebensweise, bei der sich Mann und Frau nicht in die Quere kommen. Heute finden in der Juil Residenz verschiedene traditionelle Vorführungen statt. Uns ist dadurch in dem Haus zu viel los.
Abwechslung zur konfuzianischen Architektur bringt ein Blumenfeld blühender Herbstastern. Eine Gruppe Koreanerinnen fällt gerade über das Blütenmeer her. Man sieht nur ihre Köpfe und orange-leuchtenden Jacken zwischen den Stauden aufblitzen. Die Koreaner haben ein extremes Faible für blühende Felder und Wiesen. Das unterscheidet sie von den Mitgliedern der Königshäuser, welche eher dazu neigen, Bäume zu setzen. So pflanzte Queen Elizabeth eine Koreanische Tanne im Garten der Chunghyodang Residenz. Koreaner sehen in dem Baum die überragende Eleganz einer Königin. Laut einer Legende hingen Nymphen ihre Kleider in solch eine Tanne, als sie vom Himmel hinab kamen, um in einem ruhigen Teich zu baden.
Dem Ryu-Klan entstammen zwei berühmte Männer Koreas: Unryong, ein Konfuziusgelehrter und Seongryong, dem das Chunghyodang-Haus gewidmet ist. Ab 1592 war Seongryong während der japanischen Invasion Ministerpräsident des Landes. Als er aus dem Staatsdienst ausschied, kehrte er in seine Heimat zurück und begann zu schreiben und zu lehren. Er galt sein Leben lang als ehrlich und starb in einem bescheidenen strohgedeckten Häuschen. Seine Söhne bauten ihm und seinen Tugenden zu Ehren das Chunghyodang-Haus. Der Name Chunghyodang bedeutet »Haus der Loyalität und kindlichen Frömmigkeit«.
Nahe Yangjindang, dem Haupthaus des Ryu-Familienklans, finden wir ein kleines Café. Kurz öffnet sich die Türe, schließt sich aber sogleich wieder. Während uns viele Koreaner überschwänglich freundlich begegnen, trifft man in Sachen Service irgendwie immer auf das glatte Gegenteil. Wir laufen weiter zum Pinienwald des Ryu Unryong. Der Wald dient als Windschutz und trennt das Dorf vom sandigen Uferbereich des Nakdong-Flusses. Hier sollte es eigentlich möglich sein, mit einer Fähre zum Buyongdae-Felsen überzusetzen. Doch irgendwie zeugen vom Fähranleger nur spärliche Reste. Wurde auch er Opfer des Taifun Mitag? Ein Schild erklärt den Grund, leider aber nur auf Koreanisch.
Zum Abschluss unseres Rundgangs besuchen wir den Wonji Pavillon, den Seongryong nach seiner Rückkehr in das Hahoe Village erbaute. Das Gebäude diente der körperlichen und geistigen Entspannung. Von hier aus blickt man über die wunderschöne Landschaft des Flusses bis hinüber zu den Buyongdae-Klippen. Nahe dem Pavillon finden wir ein Haus voller Masken. Die Hahoetal-Masken gehören zu den kulturellen Schätzen Koreas. Sie repräsentieren Charaktere, die bei verschiedenen Zeremonien rituelle Tanzdramen spielen. In Andong findet jedes Jahr im Oktober das internationale Maskentanzfestival statt. Mit diesen ausgestellten Masken könnten wir ebenso gut an die alemannische Fasnacht gehen, ohne aufzufallen.
Die Zeit für die Buyongdae-Klippen sollte man sich auch dann nehmen, wenn das Übersetzen mit der Fähre nicht möglich ist. Anstatt quer über den Fluss, fahren wir selbst mit dem Auto eine Fünf-Kilometer-Schlaufe zum Parkplatz des Hwacheon. Dort angekommen, werden die Schwächen der Rückwärts-Einparkhilfen deutlich. In der Regel parken Koreaner akkurat rückwärts ein. Wir sind meist die einzigen, die vorwärts schief in einer Parklücke stehen. Beim Hwacheon hingegen sind wir es, die akkurat einparken. Der Platz ist naturbelassen. Es fehlen die Streifen und die Stoppleiste. Schon streikt die Einparkhilfe und ist der Koreaner offensichtlich überfordert.
Entlang der Mauer des Hwacheon Tempels führt eine Straße auf den Buyongdae, die oben in einen Wanderpfad übergeht. Knapp 400 Meter weiter hat man die Klippe erreicht und eröffnet sich einem eine traumhafte Aussicht auf die Ebene des Hahoe Folk Village und die Reisfelder. Der Nakdong fließt ruhig um das Dorf herum, gesäumt von sanften grünen Hügeln. Aus der Vogelperspektive betrachtet, wirkt das Dorf märchenhaft. Schon seit der Zeit der Joseon-Dynastie genießt Hahoe den Ruf als bester Ort zum Leben und Glücklichsein. Blickt man von hier hinab auf die lieblichen, strohgedeckten Häuser, können wir diesen Eindruck gerne bestätigen.
Der Wanderpfad führt weiter durch den Wald entlang der Steilklippe. Nach 300 Metern erreichen wir den Gyeomam Pavillon. Hier studierte und lehrte Ryu Unryong mit seinen Anhängern und Schülern. Auch er besaß Vorbilder, wie Yi Hwang, der bedeutendste konfuzianische Philosoph seiner Zeit. Von ihm stammt die nahe dem Pavillon aufgestellte steinerne Schrifttafel. Einmal öfter bleibt uns die Botschaft verborgen. Wohl aber hat uns der Ausflug zum Hahoe Folk Village einen wunderschönen Tag beschert, an den wir uns auch wegen der kurzen Wanderung entlang der Klippe gerne erinnern werden.