Mit meinem Reiseplan sind wir für Südkorea gefühlt bestens vorbereitet. Der Flughafenbus lässt uns wie gewünscht bei der Hongik Universität heraus. Leider hatten wir die Anfahrt mit der Bahn geplant. Durch den Ausgang 5 der Bahnstation wären wir direkt auf den Weg zum Hotel gelangt. So aber stehen wir irgendwo im Stadtviertel Hongdae in Seoul, umgeben von riesigen Gebäuden. Und wir haben null Ahnung, in welche Richtung wir uns wenden müssen. Zum Glück haben wir unser Wander-Navi dabei, das uns sicher weiterhelfen kann.
Leider zeigt dieses wenig Begeisterung für die vielen Hochhäuser. So dauert es eine kleine Ewigkeit, bis es weiß, wo wir uns ungefähr befinden. Blöderweise stehen wir auf der genau falschen Seite der Hongik Station, erkennen aber zumindest eine mögliche Route zum Hotel. Was sollen wir sagen? Bei knapp 35° Celsius ist das Kofferschleppen wahrlich kein Vergnügen. Doch auch der Blick nach dem nächsten Taxi geht ins Leere? Wir haben Sonntag, sind mitten in einer Großstadt und es ist unglaublich ruhig in Hongdae.
So laufen wir schließlich die anderthalb Kilometer bis zum Roadhouse Hongdae Shinchon, unserem Hotel für die nächsten fünf Nächte. Das Roadhouse nutzt die oberen fünf Etagen eines schmucklosen Punkthochhauses an der sechsspurigen Sinchon-Ro. Um hineinzukommen, hat uns der Besitzer im Voraus einen Pin-Code per WhatsApp zugesandt. Dieser funktioniert nicht nur, sondern lässt sich anhand der stark abgegriffenen Tasten auf dem Zifferblatt außerdem fast schon erraten.
Im restlichen Gebäude ist das Tomsori Music Studio untergebracht. Davon bekommen wir allerdings nichts mit, sondern rauschen im Lift daran vorbei bis hoch zum 11 Stock. Dort wird gerade gefrühstückt und können wir uns anmelden. Natürlich stehen die Zimmer noch nicht bereit. Check-in wäre um 15 Uhr. Doch wir dürfen um 13 Uhr schon hinein. Der junge Mann ist freundlich und zeigt Mitleid mit mir, als ich völlig durchgeschwitzt ankomme.
Im Waschraum können wir uns frisch machen. Sehr nett ist, dass wir uns bei den Getränken vom Frühstück bedienen dürfen. Interessant finde ich hier das europäisch wirkende Küchenpersonal, das mich etwas schräg anschaut, als ich später die leeren Tassen zum Abwasch hinstelle. Lars verfolgt schmunzelnd das Geschehen. Er hat den Zettel mit der Bitte, dass jeder Gast seinen Abwasch selbst erledigt, längst gefunden. Und die Touristin hatte keinen Bock, mir die Arbeit abzunehmen. Gut, die ersten fünf Nächte in Korea sind richtig günstig.
Kein Wunder also, dass wir hier in einer Backpacker-Unterkunft gelandet sind. Doch auch wenn die Bilder im Internet dem Etablissement schmeicheln, so sind die Zimmer zwar winzig, aber sauber. Wir haben ein Zimmer für drei Personen gebucht, sodass auch unser Gepäck genug Platz findet. Dusche, Waschbecken und Toilette sind auf anderthalb Quadratmeter untergebracht. Handtücher können bei Bedarf im Flur geholt werden … Na ja, der Service ist im Roadhouse Hongdae Shinchon eher spartanisch. Dafür aber ist das Frühstück inbegriffen, auch wenn man sich das Spiegelei selbst in die Pfanne schlagen muss.
Sowie wir unser Gepäck los sind, haben wir erst einmal viel Zeit für den ersten Stadtrundgang und wollen weg von der breiten Sinchon-Ro. Geplant ist, den Ankunftstag im Stadtteil Hongdae zu verbringen. Vom Hotel aus gesehen, überqueren wir also die Sinchon-Ro und schlendern durch das Gassengewirr in Richtung Hongik Universität. Bald schon treffen wir auf die Gyeongui Line Book Street. Ziel des im Oktober 2016 fertiggestellten Kulturkomplexes war es, den Besuchern eine größere Wertschätzung für Bücher zu vermitteln.
Mehrere Buchhandlungen sind entlang der Book Street in verschiedenen Containern oder Eisenbahnwaggons untergebracht. Die Straße soll Wissen und Weisheit, vor allem aber einen gesünderen Lebensstil weitergeben. Tatsächlich wird schon nach wenigen Augenblicken in Seoul deutlich, dass die Nasen der Südkoreaner irgendwie mit ihren Smartphones fest verwachsen sind. Da macht so eine Bücherstraße wirklich Sinn. Ob es auch so funktioniert wie von den Initiatoren gewollt, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Aber ja, es funktioniert. Denn die Gyeongui Line Book Street ist keine Bücher-Shopping-Mall. Sie bildet ein Naherholungsgebiet, das auf der Linie der alten Gyeongui-Eisenbahn von Yongsan nach Gajwa angelegt wurde. Die Gyeongui Line war einst eine zweigleisige Eisenbahnstrecke zwischen Seoul und Sinuiju im heutigen Nordkorea. Die Japaner bauten die Strecke zwischen 1904 und 1906, um die Kontrolle über die koreanische Halbinsel zu sichern und eine Invasion ins verfeindete China zu ermöglichen. Die 518,5 Kilometer lange Eisenbahnstrecke wurde am 3. April 1906 in Betrieb genommen. Zusammen mit der Gyeongbu Line Richtung Busan und mehreren angeschlossenen Nebenstrecken war die Gyeongui Line damals die Haupteisenbahn und zugleich wirtschaftliche Lebensader Koreas.
Mit der Teilung der koreanischen Halbinsel verlor die Eisenbahnstrecke ihre Bedeutung und wurde der Betrieb eingestellt. Eine Wiedereröffnung der Strecke stand mehrmals zur Diskussion. Im Jahr 2009 entstand zumindest eine U-Bahn-Linie zwischen Seoul Station und Munsan Station, nahe der Nordkoreanischen Grenze. Der Waldpark der Gyeongui Line Book Street bildet einen Abschnitt auf der alten Eisenbahnstrecke.
Während die Bahn in den Untergrund verlegt wurde, verläuft nun darüber eine Parkanlage, die dem High Line Park in New York ähnelt. Wie dort hat sich die Grünanlage auch in Hongdae zu einem beliebten Erholungsort für Stadtmenschen in der Natur entwickelt. Hier schaffen es wirklich einige Koreaner, ihre Smartphones mal links liegen zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, einfach mal in Ruhe durchzuatmen und zu leben.
Doch Hongdae ist natürlich weit mehr als die Gyeongui Line Book Street. Bei unserer Ankunft am Sonntagmorgen ist es ruhig in den verwinkelten Gassen. Sobald die ersten Bewohner ausgeschlafen haben, füllen sich die Straßen jedoch zusehends. Straßenkünstler lassen ihrem musikalischen Talent freien Lauf. Die ältere Generation indes leistet sich im Park eine große Bühne. Ein Mann trällert koreanische Volksmusik, während das Publikum fröhlich in die Hände klatscht. Im Umfeld der Bühne stehen mehrere, übertrieben traditionell, bunt oder kitschig gekleidete Frauen und Männer. Sie haben bereits gesungen oder warten noch auf ihren Auftritt.
Einen Steinwurf weiter begegnen wir den jungen Sängern, die erst noch entdeckt werden wollen und mit beachtlich sicherer Stimme Lieder von Ed Sheeran und anderen berühmten Stars vortragen. Leider werden sie von der Musik der Läden übertönt. Jeder versucht, irgendwie beachtet zu werden. Da die meisten Koreaner lieber auf ihr Smartphone blicken als ihre Umgebung wahrzunehmen, lässt sich die Aufmerksamkeit der Passanten nur durch eine gewisse Geräuschkulisse erzielen. Es war eher Zufall, dass wir mit der ersten Unterkunft in Hongdae gelandet sind. Wir hätten es kaum besser treffen können.