Am vierten Tag unserer Südkorea-Reise wollen wir einen Ausflug in die entmilitarisierte Zone, der DMZ, unternehmen. Laut unserem Plan soll es also an die nordkoreanische Grenze gehen. Die DMZ lässt sich ausschließlich im Rahmen einer organisierten Tour besuchen. Und da die meisten Ausflüge in Seoul starten, haben wir einen vollen Tag dafür reserviert. Die Tour konnten wir bereits Zuhause auswählen bzw. fest buchen. Als wir am Abend zuvor ins Hotel kommen, erreicht uns jedoch eine Mail. Anscheinend grassiert gerade die Schweinepest. Was uns das angeht? Um eine Ausbreitung der Seuche nach Nordkorea zu verhindern, wurden sämtliche DMZ-Touren in das Gebiet abgesagt. Damit fällt auch unser Ausflug flach. Ob es wirklich an den Schweinen liegt oder am kleinen Kim, der kurz zuvor ein Treffen mit Vertretern der Vereinigten Staaten abgesagt hat? Wer mag das beurteilen? Kurzum: wir haben einen Tag mehr in Seoul und nutzen diesen für das Namsangol Hanok Village, gleich unterhalb des N Seoul Towers.
Anders als das bewohnte Bukchon Hanok Village bildet das Dorf im Namsangol eine Art Freilichtmuseum. Auf knapp 8.000 m² bzw. 0,8 Hektar wurden einzelne traditionelle Häuser aus verschiedenen sozialen Schichten der Joseon-Zeit aufgestellt. Die Hanoks stammen aus dem Stadtgebiet von Seoul, wo sie vor dem Abriss gerettet und hierher verfrachtet wurden. Gegenüber einem bewohnten Hanok-Viertel birgt das Namsangol Hanok-Dorf den Vorteil, dass hier Einblicke hinter die Mauern möglich sind. Zudem herrscht hier deutlich weniger Betrieb als beim Bukchon, was wir ebenfalls als sehr angenehm empfinden.
Das Gelände am Fuße des Namsan war schon während der Joseon-Zeit mit seinem Tal und dem Cheonugak-Pavillon ein beliebter Sommerurlaubsort. Wegen seiner traumhaften Landschaft wurde die Gegend auch Cheonghak-dong genannt – der Ort, an dem die Götter leben. Am 18. April 1998 öffnete schließlich das Freilichtmuseum seine Tore. Das Namsangol Hanok Village soll den Besuchern einen Eindruck davon vermitteln, wie Seoul vor 100 Jahren aussah.
Wir starten unseren Rundgang mit dem Familienhaus des Yun Deok-yeong. Er war der Onkel der Kaiserin Sunjeonghyo. Bei dem Haus handelt es sich allerdings um einen Nachbau. Das ursprüngliche Gebäude war zu stark beschädigt, um verlegt zu werden. Der Innenhof ist umgeben von mehreren geräumigen Zimmern, wie der Küche und den Wohn- bzw. Schlafräumen. Von Bedeutung ist der traditionelle Sarangbang. Dieser ist streng nach den konfuzianistischen Prinzipien eingerichtet und war in früheren Epochen den Männern vorbehalten.
Den Pendant zum Sarangbang bildet der Anchae. Er symbolisiert den Platz der Frau als Oberin im Haushalt. Der Anchae ist zugleich der heiligste Raum des Hanok und am weitesten vom Haupttor entfernt. Als Zentrum der Haushaltsführung diente er der sicheren Verwahrung aller Schlüssel und Wertsachen des Hauses. Der Ehemann sowie auch die Familie durften den Anchae nur mit der Erlaubnis der Hausfrau betreten.
Schön an den Hanoks im Namsangol Village sind die lebendigen Räume. Anders als in den Palastanlagen werden die Gebäude zum Arbeiten genutzt. Vorausgesetzt, man erkennt das Knüpfen von Armbändern als Arbeit an. Wesentlich strenger geht es im Kaiserhaus zu. Haepung Buwongun Yoon Taek-yeong ließ das Haus erbauen, als seine Tochter, Kaiserin Sunjeonghyo, die Frau von Kaiser Sunjong wurde. Hier sollte der Kaiser während seines Aufenthalts einen komfortablen Raum finden. Natürlich gibt es auch hier den Sarangchae und Anchae. Beide dienen heute als Ausstellungsraum. Die anderen Räume sehen wir hingegen mit niederländischen, überwiegend männlichen Ingenieuren der Firma Q Cells besetzt. Ein Hoch auf das Event-Management, welches solch passende Teamevents organisiert. Die Ingenieure widmen sich der Kalligraphie und Seidenmalerei, backen Reiskuchen und schnitzen Pfeile, um später die Zielscheibe meterweit zu verfehlen. Hier wird enorm viel Zeit und Geld mit irgendwelchen Beschäftigungstherapien verbrannt. Aber irgendwie muss das Village ja finanziert werden. Immerhin genießen einfache Besucher hier freien Eintritt.
Als Nächstes widmen wir uns dem Herrenhaus des Min Yeong-hui aus den 1870er Jahren. Im Hof reihen sich große Tonkrüge aneinander. Dienten sie früher der Aufbewahrung von Lebensmitteln, so bilden sie heute ein dankbares Fotomotiv. Die Gebäude ähneln jedoch dem bereits Gesehenen. So gilt unser Interesse bald den Obstbäumen in den Hochbeeten. Diese biegen sich unter der Last dicker Früchte, die übergroßen Pflaumen oder Kakis ähneln. Sie scheinen reif zu sein. Denn einige Rentner strengen sich an, die Früchte mit ihren Spazierstöcken von den Ästen zu ziehen. Natürlich achten sie peinlichst darauf, das Beet niemals zu betreten. Im Gegensatz zum Pflaumenklau wäre das ein unverzeihlicher Fauxpas.
Wer möchte, kann in dem Village außerdem an einer traditionellen Teezeremonie teilnehmen. Für schlappe 10.000 WON ist man dabei. Wenn wir jedoch bedenken, dass unser gestriges Abendessen gerade mal 20.000 WON gekostet hat, empfinden wir das doch als etwas überteuert. So gönnen wir uns stattdessen unseren täglichen Milchkaffee im Café Dalgang, bevor wir eine Runde durch den traditionellen Garten spazieren. Neben mehreren Pavillons zum Ausruhen wartet dieser mit einer kleinen Kuriosität auf. Die Seoul Millennium Time Capsule befindet sich hier in einem nachempfundenen Meteoritenkrater, der die Ewigkeit symbolisieren soll. Anlässlich des 600-jährigen Jubiläums der koreanischen Hauptstadt Seoul wurden 1994 inmitten des Kraters genau 600 Objekte in ein Betonsilo eingeschlossen. Die Alltagsgegenstände wie Staubsauger, Kreditkarte oder auch die Uniform eines Straßenkehrers sollen die Stadt repräsentieren. Am 29. November 2394 soll die Time Capsule zum 1000-jährigen Jubiläum wieder geöffnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Über den Eintrittspreis muss allerdings erst noch entschieden werden.
Nach einer ausgiebigen Pause in einem der Pavillons über dem Namsangol Hanok Village streben wir dem Stadtteil Myeong-dong zu. Glauben wir den Berichten, soll das Viertel das Einkaufsmekka Koreas sein. Tatsächlich haben wir kaum die Hauptverkehrsstraße überquert, überschlagen sich die vielen bunten Schilder der Läden, in der Hoffnung, kauffreudige Kundschaft anlocken zu können. Während die Geschäfte im Künstlerviertel Hongdae eher Balsam für den Geldbeutel sind, stehen hier hochpreisige europäische Marken im Fokus. Trotzdem zieht es viele junge Leute hierher. Sie alle machen deutlich, dass Geltungsdrang auch in Südkorea seinen Preis hat. So also greifen sie lieber tief in die Tasche, als zu riskieren, von ihresgleichen ausgegrenzt zu werden.
Die Anfänge der Konsumhochburg Myeong-dong reichen bis in die 1930er Jahre zurück. Während der Besatzung hatten die Japaner hier ihr bevorzugter Einkaufs- und Handelsdistrikt geschaffen. Leider fielen die Kolonialgebäude später dem Lauf der Geschichte zum Opfer. Sowohl der Koreakrieg als auch die nachfolgende, rasche Wirtschaftsentwicklung forderten ihren Tribut. Doch mittendrin thront die Myeongdong Cathedral auf einem Hügel, als ruhiges Überbleibsel aus alten Zeiten. Sie gilt als die Nationalkathedrale der römisch-katholischen Erzdiözese Seoul und ist Sitz des Erzbischofs. Nirgends in ganz Korea begegnen wir so vielen Nonnen wie rund um der Kathedrale. Sie fühlen sich hier offensichtlich wohl, was wir bei der angenehmen Ruhe auf dem Kirchplatz gut nachvollziehen können.
In einer Stadt wie Seoul bleibt es nicht aus, dass sich in wenigstens einem Viertel eine Chinatown etabliert. Doch anders als in der Chinatown New York, von San Francisco oder Bangkok überkommt uns hier nur wenig China-Feeling. Einzig die chinesische Botschaft mit ihren gewaltigen roten Toren erinnert daran, dass diese Nation ein Faible für Überwachung und Kontrolle hat. Im krassen Gegensatz dazu steht das strenge Fotografierverbot. Offenbar fühlen sich die Repräsentanten der Volksrepublik nur auf einer Seite der Kamera wohl. Rundherum bestimmen Betonhochhäuser das Viertel. Erst am Rand von Chinatown treffen wir auf eines der letzten Kolonialgebäude dieser Gegend. Es ist das Bank of Korea Museum, welches arg an ein französisches Schloss erinnert.
Unser Bedarf an Museen ist fürs Erste jedoch gedeckt. So tauchen wir ab in eine weitläufige Untergrund-Mall und spazieren weiter zur Straße Sejong-daero. Hier müsste eine U-Bahn-Station sein. Doch kaum sind wir wieder unter freiem Himmel, stehen wir inmitten einer Demonstration. Wir verstehen kein Wort, sind aber froh, dass alles gesittet und geordnet abläuft. Viele Demonstranten haben es sich auf Matten oder gar kleinen Hockern bequem gemacht. Hie und da wird Kaffee ausgeschenkt. Erst später erfahren wir, dass sich die Proteste gegen die Regierung und insbesondere gegen den Justizminister richten. Während ihm moralisches Fehlverhalten vorgeworfen wird, soll seine Familie in zwielichtige Finanzgeschäfte verwickelt sein. In anderen Ländern würde kein Hahn danach krähen. Doch Südkorea ist da anders. Der Minister möge doch bitte seinen Hut nehmen. Durch die Demo herrscht auch in der U-Bahn-Station Hochbetrieb. Touristen könnten in dem Wirrwarr leicht verlorengehen, befürchtet wohl der Koreaner. So steht die Touristenbehörde in den Gängen parat, pickt uns heraus und erklärt den Weg zu unserer Bahn, den wir ohnehin bereits eingeschlagen hatten. Aber sicher ist nun mal sicher.