Tongyeong ist die südlichste Stadt unserer Autorundreise über die koreanische Halbinsel. Bereits bei Anreise wirkt Tongyeong auf uns wie eine große verschlafene Hafenstadt. Einzig die Autofahrer scheinen es hier eiliger zu haben als in den nördlicheren Gegenden des Landes. Die für Korea typischen Hochhausviertel entlang der Siedlungsränder sind hier deutlich niedriger. Bei gerade mal 140.000 Einwohnern braucht es davon auch nur wenige. Wir erreichen somit recht zügig das Zentrum und die Brücke zur Insel Mireukdo. Auf dieser befindet sich das Bella Guesthouse. Es ist ein wunderschönes blaues Holzhaus, das genauso gut in der Wisteria Lane der Desperate Housewives der Universal Studios bei Los Angeles stehen könnte.
Die Gastgeber vom Bella Guesthouse geben gerne ausführliche Tipps für die Umgebung. Wir bekommen ein riesiges Zimmer und haben das komplette Dachgeschoss mit offener Galerie für uns alleine. Auch das Frühstück ist prima und bringt uns neue koreanische Spezialitäten bei. Da wir uns direkt am Meer befinden, sind diese fischlastig, was uns jedoch ganz recht ist. Vor allem aber besticht das Bella Guesthouse mit seiner ruhigen Lage und zugleich guten Erreichbarkeit. So können wir bequem zu Fuß ins Stadtzentrum und zum Hafen von Tongyeong spazieren.
Wir lassen das Auto ein weiteres Mal stehen und laufen zuerst zur Boulangerie Paris Baguette. Die nächste Filiale haben wir bereits bei der Fahrt zum Guesthouse entdeckt. Ernüchternd ist allerdings das Angebot. Die Bedienung ist zu faul, Milch aufzuschäumen und bietet uns Kaffee Americano an. Wir verzichten, nehmen eine Kleinigkeit zum Essen mit und gehen weiter ins Stadtzentrum. Mit dem Auto sind wir über die Chungmugyo Brücke gefahren. Diese bietet sicherlich eine schöne Aussicht über den Hafen; allerdings auch viel Lärm durch den vielen Verkehr. Tongyeong besitzt jedoch einen Unterwassertunnel, der die Hafenstadt mit der Insel Mireukdo verbindet.
In den Jahren 1931 bis 1932 gruben die Japaner hier den vermutlich ersten Unterwassertunnel Asiens. Am Eingang zum Tunnel steht auf Koreanisch die Phrase Yongmun Dalyang. Es bedeutet: wer durch Yongmun fährt, erreicht den Berg. Das Bauwerk selbst hat eine Breite von fünf Metern und misst dreieinhalb Meter Höhe. Zusammen mit den Rampenbauwerken an den Enden erreicht der Tunnel eine Gesamtlänge von 494 Meter. Ohne die Rampen sind es immerhin noch 302 Meter, die sich bei Tide bis zu 13,50 Meter unterhalb der Wasseroberfläche befinden. Er ist somit ähnlich lang wie der Alte Elbtunnel von Hamburg. Beim Tiefpunkt wird die Geschichte des Tunnels mit Leuchtwänden illustriert. Ansonsten ist das Bauwerk in schlichtem Beton gehalten. Heute dürfen nur noch Fußgänger den Tunnel benutzen, oder elektrisch betriebene Marktbuden, welche gemächlich an uns vorbei surren. Obwohl der Tunnel ein japanisches Projekt war, wurde er am 14. September 2005 als historisch wertvoll eingestuft und in die Liste der koreanischen Kulturgüter aufgenommen.
Der Tunnelausgang befindet sich nahe der westlichen Uferpromenade von Tongyeong. Der dort breite Fußweg lädt zu Spaziergängen und zum Flanieren ein. Die vierspurige Straße, welche diesen von der Gebäudereihe trennt, ist eindeutig überdimensioniert. Es fahren kaum Autos. Tongyeong ist wirklich ein verschlafenes Fischerdorf. Die Aussicht auf die Insel Mireukdo wirkt industriell. Wir blicken auf eine Werft. Bei den Hafengebäuden wechseln sich Läden mit Angelbedarf und Fischläden mit Fischrestaurants ab. Alles schön und gut, wir aber suchen ein Café.
Gemütlich schlendern wir Richtung Ferry Terminal bis zu einer Fischhalle. Zahlreiche vorgelagerte Inseln und die warme Kuroshio-Strömung des Ostmeers bescheren Tongyeong einen guten Fischreichtum. Hier in der Halle wird der Tagesfang in Körben gelagert, durch die frisches Meerwasser strömt und blubbert. So können Fische und Meeresfrüchte lebendig gelagert und später frisch serviert oder weiterverarbeitet werden.
Beim Fährhafen enden die Seafood-Restaurants und beginnen die Gaststätten mit klassisch Koreanischer Küche. Ordnung muss sein. Gibt es auch eine Straße nur mit Cafés? Wir schauen, ob uns hier ein Koreaner einen Milchkaffee kredenzt und werden tatsächlich fündig. Allerdings müssen wir zuerst den Wirt wecken. Der hockt im Sessel vorm Fernseher und schläft tief und fest. Wo gibt es denn so was? Aber wie war das mit dem verschlafenen Fischerdorf?
Der Name Tongyeong leitet sich von Tongjeyong ab, was soviel wie Marinehauptquartier bedeutet. Dies bezieht sich auf die nahe gelegene Insel Hansan, von der aus einst Yi Sun-sin seine Flotte befehligte. Der zentral gelegene Hafen Gangguan ist zudem an drei Seiten von Land geschützt. Somit ließ sich dieser gegen die allzu penetranten Invasoren gut verteidigen. Der Hansan Daecheop ist ein riesiger Platz des Patriotismus. Eine große Rampe stellt hier ein Panokseon Schiff dar. Diese Ruder- und Segelschiffe dienten als Kriegsschiffe während des Imjin-Krieges. Darauf stehen die goldenen Statuen der Seestreitkräfte des Admirals.
Im Hafenbecken selbst sollten Nachbauten der berühmten Schildkrötenschiffe stehen. Scheinbar werden diese im Herbst eingemottet. Wir finden jede Menge bunte Fischerboote. Doch keines davon besitzt einen Drachen- oder Schildkrötenkopf am Bug. Somit laufen wir weiter zum Jungang, dem Fischmarkt der Stadt. In Wasserbecken werden Fische, Muscheln und sonstige Meeresfrüchte so frisch wie möglich angeboten. Damit die »Ware« gut zu erkennen ist, wird diese in Körben knapp unter der Wasseroberfläche gehalten. So mancher Fisch versucht, die Flucht zu ergreifen. Doch wo soll er hin? Und wie kommt man auf die Idee, Seescheiden zu essen? Die Koreaner legen diese in Essig ein. Kann man dafür nicht einfach grüne Gurken aus dem Garten holen? Uns tut der Anblick in der Seele weh.
Als Vorteil dieses Fischmarktes erkennen wir jedoch, dass er durch das viele Wasser nicht stinkt. Den sonst typischen Fischgeruch vernehmen wir nur beim Trockenfisch am Rand der Hallen. Wie früher werden Palmwedelgebinde genutzt, um die Fliegen zu verscheuchen. Mit dem Unterschied, dass diese inzwischen durch einen Motor betrieben werden. Da lässt es sich einfach besser tratschen.
Die Obst- und Gemüseabteilung grenzt gleich an und ist einiges angenehmer. Sauber und schön portioniert finden wir Kaki, Äpfel, Nashi-Birnen und Trauben. Es gibt viel an Kohlgemüse und Sprossen von zig Pflanzen. Gegenüber steht das Eingemachte mit kleinen Probierschälchen davor. Alles leuchtet verdächtig rot, was unseren europäischen Gaumen eher schmerzen als munden wird. Wir verzichten lieber und genießen den restlichen Tag.
Auf dem Rückweg zum Unterwassertunnel versuchen wir schließlich doch unser Glück, Essen zu gehen. Inzwischen sind wir bei der Suche geübter oder auch aufmerksamer. Denn beim Hansan Daecheop Platz ist Lars bereits beim Hinweg ein schönes Restaurant aufgefallen. Das Hoeunjeong bietet koreanische Gerichte und ist neu und modern eingerichtet. Der Wirt versteht, dass wir kein scharfes Gericht wollen und verspricht uns ein Überraschungsmenü. So stehen nach kurzer Zeit mehrere Tellerchen vor uns mit verschiedensten Leckereien. Die Metallstäbchen sorgen schließlich dafür, dass wir eine ganze Weile mit dem Essen beschäftigt sind.
Es ist dämmrig, als wir das Restaurant verlassen. Sollen wir ein Taxi zurück zum Bella Guesthouse nehmen? Zuerst gehen wir zum Fährhafen und erkunden uns über Bootstouren ab Tongyeong. Viel los ist hier ja nicht. Die Anschriebe sind alle auf Koreanisch. Die Touristinfo hat bereits geschlossen. Was soll's! Das einzige Schild, das wir verstehen, erklärt am Eingang: »available languages: korean«. So spazieren wir bald weiter, verwerfen den Taxi-Gedanken und entscheiden uns für einen Abendspaziergang, der uns entlang der beleuchteten Uferpromenade führt. Durch den nun bunt beleuchteten Tunnel geht es wieder hinüber zur Insel Mireukdo. Hier sind die Gassen ganz schön düster. In manch anderem Land wäre uns Angst und Bange. Aber in Tongyeong kann man wohl davon ausgehen, dass selbst die Gauner zu dieser Stunde schlafen.