Zurück über die acht Kilometer lange Schotterpiste vom Sangwonsa Tempel durch den Odaesan, erreichen wir im Süden des Nationalparks den Woljeongsa Tempel. Auf dem Parkplatz wird gerade Markt gehalten. Die Chancen stehen gut, hier noch eine Kleinigkeit zum Essen zu finden. Bei unserer zuvor geleisteten Wanderung war das kulinarische Angebot ja eher vom Glück abhängig. In unserem Fall trafen wir ein paar nette Koreaner, die mit uns ihren Maroni-Proviant teilten. Die koreanische Gastfreundschaft erfreut uns doch immer wieder.
Doch zuerst besichtigen wir den Woljeongsa, ein Tempel der Energie des Mondes. Ein bunter Gang aus Wunschlaternen schlängelt sich bis in den Hof der Anlage und bringt uns direkt zur Tempelbäckerei. Zu unserer Überraschung wirbt diese mit natürlicher Backware. »Sei eins mit Mutter Natur!« gehört zur Philosophie des Woljeongsa. Der Aufenthalt inmitten des tausend Jahre alten Tannenwaldes, dem Millennium-Wald, soll helfen, sich von jeglichem Druck und Zwang zu befreien. Und wenn es das Hungergefühl ist. So sitzen wir bald an einem der Tempelgebäude gelehnt und beobachten das ruhige Treiben auf der Anlage, während wir unsere frisch erstandenen Nussbrötchen knabbern. Es ist ein wirklich ruhiger Ort.
Auch der Mönch Jajang erkannte in dem Ort etwas Besonderes. Während seiner Ausbildung in China hatte Jajang eine Begegnung mit dem Manjushri, einem Erleuchtungswesen. Dieses übergab dem Mönch einige Sarira, Reliquien des historischen Buddha, und versprach, ihn im Odaesan wieder zu treffen. So kehrte Jajang nach Korea zurück, ging in den Tannenwald des Odaesan und gründete eine Einsiedelei. Trotz inniger Meditation erschien ihm jedoch kein Manjushri. Der Mönch blieb optimistisch und schob seinen Misserfolg auf das schlechte Wetter. Er blieb und setzte seine buddhistische Praxis fort. So entstand 643 der Woljeongsa Tempel, in dem heute die Buddha-Reliquien in der Schatzhalle des Glanzes der Leere verborgen sind.
In den Wirren des Koreakrieges wurden sämtliche Gebäude des Woljeongsa Tempel niedergebrannt. Umso erstaunlicher ist es, dass die Sarira-Pagode so gut erhalten blieb und die vor ihre kniende Bodhisattva-Statue noch immer erleuchtet vor sich hin lächelt. Beide stammen sehr wahrscheinlich aus der Dynastie der Goryeo. Genaues weiß keiner, doch die neunstöckige und 15,2 Meter hohe Steinpagode besitzt als einzige Pagode Koreas die Form eines Oktaeders. So erinnert sie an chinesische Pagoden aus der gleichzeitigen Song-Dynastie. Eine damals enge Beziehung zum Reich der Mitte brachte auch deren Vorlieben mit nach Korea. Der steinerne Bodhisattva sitzt mit gefalteten Händen vor der Pagode und bringt Buddha seine Opfer dar. Die Pagode selbst bildet das bekannteste Kulturgut von Woljeongsa und gehört mit der Statue des Bodhisattva zum nationalen Schatz Koreas.
Woljeongsa ist heute einer der Haupttempel des Jogye, dem repräsentativen Orden des koreanischen Buddhismus. Der Orden unterhält ein Museum, in dem Objekte zur buddhistischen Kultur der Goryeo-Zeit ausgestellt sind. Wer für eine Weile richtig abschalten oder zu sich selbst finden will, kann im angebotenen Templestay einige Tage verbringen. Neben verschiedenen Meditationen und Bastelarbeiten von Laternen und Perlenketten zählen Waldexpeditionen zum Programm. Der Orden stellt damit klar: wer mit Mutter Natur eins werden will, sollte sie auch kennenlernen.