Zwei steinerne Löwen begrüßen uns am prächtigen Eisentor von Glamis Castle. Wir sind zunächst unsicher, ob wir da einfach durchfahren dürfen. Immerhin lotst uns das Navi gerne zum Hintereingang der gewählten Ziele. Aber so soll es wohl sein. Zwei Wegelagerer in einer Hütte knöpfen uns ein kurzes Stück hinter dem Tor den Eintritt für das Schloss ab.
Es folgt eine gut anderthalb Kilometer lange Fahrt durch den herrschaftlichen Park von Glamis Castle. Wir beobachten einen Gärtner, der auf seinem breiten Aufsitzmäher über die Wiesen fährt. Später erfahren wir, dass dieser im Sommer nichts anderes macht, als tagtäglich zu mähen. Ist er an einem Ende angelangt, kann er am anderen wieder von vorne beginnen. Eine wahre Sisyphusarbeit.
Während wir langsam durch die Allee fahren, kommt uns das pittoreske Schloss mit seinen zahlreichen Türmchen und Dachspitzen immer näher. Anders als bei mittelalterlichen Festungen üblich, steht dieses in einer Senke, sodass wir bergab fahren. Das Schloss Glamis ist der historische Wohnsitz der Grafen Strathmore und Kinghorne und seit 1372 einer der Wohnsitze des Königshauses.
Die Familie von Sir John Lyon kam 1370 nach Glamis und im frühen 15. Jahrhundert entstand das Turmhaus, der älteste Teil des Schlosses. Noch heute lebt das Familienoberhaupt, Michael, der 18. Earl of Strathmore, auf dem Landsitz. Daher steht nur ein kleiner Teil des Schlosses zur Besichtigung offen, während die anderen Teile von der Familie privat genutzt werden.
Eine Schlossbesichtigung der herrschaftlichen Räume ist allein wegen der engen Verbindungen zum Königshaus ein Muss. Sir John Lyon heiratete damals Johanna, die Enkelin des berühmten Königs Robert the Bruce und Tochter von König Robert II. Die Ländereien von Glamis waren ein Teil der Mitgift zur Hochzeit. Uns bekannter ist die Tochter des 14. Grafs. Elizabeth Bowes-Lyon war die Gemahlin von König Georg VI. und somit die damalige Queen Elizabeth. Als Queen Mum ist sie die berühmte Mutter von Elisabeth II.. Sie ist im Schloss Glamis aufgewachsen und brachte dort 1930 auch ihre jüngste Tochter, Prinzessin Margaret zur Welt. Ihr Leben lang hat die Königin Mutter das Schloss und ihre Familie besucht.
Auch in der Literatur erscheint Glamis Castle. Shakespeare beschreibt in einer Tragödie, wie der Thane of Glamis als Macbeth Schottlands König Duncan ermordet und sich zum König krönen lässt. Der Mord auf Glamis Castle ist historisch nicht belegt. Trotzdem sind wir neugierig auf die Räumlichkeiten des Schlosses und melden uns bei einer Führung an. Wir warten kurz auf Pauline, die uns bei der Anmeldung abholt und bald mit leichtem Humor beweist, dass Schlossführungen durchaus auch spannend und unterhaltsam sein können. Audioguides – bei denen wir regelmäßig nach wenigen Minuten ermüden – sind davon noch meilenweit entfernt.
Von den 125 Zimmern im Schloss können nur zehn besichtigt werden. Dafür ist jeder Raum komplett anders gestaltet. Wir beginnen mit dem Speisesaal, dessen übertriebene Stuckdecke mit Englischen Rosen und Schottischen Disteln verziert ist. Der große Mahagonitisch ist gedeckt und mit einem Silberschiff in der Mitte verziert.
Dieses Schiff war ein Geschenk aller Landarbeiter von Glamis zur Goldenen Hochzeit des 13. Graf und der Gräfin. Der Tisch selbst bietet voll ausgezogen Platz für 36 Personen und wird heute noch für Empfänge, Hochzeiten und andere Festlichkeiten genutzt. Als Lars mutmaßt, dass dies entweder sehr teuer oder umsonst ist, schmunzelt Pauline: »Ja, so ist es.«
Die Krypta war früher der Saal der Diener. Dort konnten sie essen und schlafen. Einer Sage nach befindet sich dort eine kleine Geheimkammer. Zwei Männer spielten dort versteckt und verbotenerweise Karten. Zur Strafe wurden sie eingemauert – angeblich vom Teufel selbst – und sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit weiterzuspielen. Ein in der Außenwand sichtbares, aber vermauertes Fenster beweist die Existenz des Zimmers. Die Krypta selbst dient heute als Ausstellungsraum für Ritterrüstungen. Es handelt sich allerdings nur um viktorianische Kopien von Deutschen Pferdekampfrüstungen, mit denen nie gekämpft wurde, die aber als die besten ihrer Zeit gelten.
Immerhin handelt es sich beim Schloss Glamis um ein Lust- oder Jagdschloss. Das erkennt man zum einen an den vielen unterschiedlichen Geweihen an der Wand. Zudem steht das Schloss nicht wie üblich auf einem Berg (wir sind ja bergab gefahren), sondern im Tal. Früher war Glamis von Marschland umgeben. Bevor die eigentlichen Bauarbeiten begonnen werden konnten, mussten damals erst einmal die Sümpfe trockengelegt werden. Zudem besitzt Glamis Castle keinen Kerker, sondern anstelle dessen einen Weinkeller.
Die schmale Treppe bei der Krypta führt allerdings nicht zum Wein, sondern zum Schlossbrunnen und zur alten Schlossküche. Die älteren Treppen im alten Schlossteil wurden schmal gehalten, damit feindliche Eindringlinge nur einzeln hinaufrennen und leichter besiegt werden konnten. Die später errichtete Haupttreppe wurde dann schon deutlich breiter gebaut, sodass dort drei Personen nebeneinander stehen können. Zudem ist diese über einen Schacht in der Mitte mit einer Heizvorrichtung ausgestattet. Das Schloss besitzt somit ein beheiztes Treppenhaus, welches zudem mit den Geweihen spanischer Hirsche verziert ist. Bei der Menge wurde womöglich der gesamte spanische Hirschbestand ausgerottet.
Aus dem 16. Jahrhundert stammt der Große Saal oder der heutige Hauptsalon. Über dem Kamin sehen wir das Wappenschild von König James VI. von Schottland. 1603 wurde er zudem König James I. von England und vereinigte somit die Kronen von Schottland und England.
Die in sich verschlungenen Distel von Schottland und Rose von England symbolisieren das Vereinigte Königreich. Der Kamin mit den beiden kleinen Stühlen davor war zudem der Lieblingsplatz von Königin Elisabeth II. und Prinzessin Margaret, wenn sie in ihrer Kindheit ihre Großeltern besuchten.
Auf einer Staffelei von 1909 sehen wir die neunjährige Lady Elisabeth, wie sie mit David Bowes Lyon auf dem Diwan sitzt und Karten spielt. Der Salon hat sich nie groß verändert. Oder wie Lars scherzt: »Guck mal, die hatten auch nie Geld für was Neues ...« Dadurch sieht heute alles noch aus wie damals, nur die Palme wurde gegen eine kleinere ausgetauscht.
Auch die kleine Puderkammer ist noch in der hinteren Ecke. Dort haben sich nicht die Damen ihre Nase gepudert. Dieser winzige Raum war den Herren vorbehalten, die sich dort ihre Perücken puderten, damit diese weiß blieben – aber auch, um diese von Läusen, Motten und anderem Ungeziefer zu befreien.
Die Kapelle wird heute noch privat von der Familie benutzt. Der gesamte Kirchenraum, einschließlich der Decke, ist mit 95 Gemälden des Holländers Jacob de Wet verziert. 15 Bilder an der Decke zeigen Szenen vom Leben Christi, während auf den Wänden die 12 Apostel und Szenen aus dem Neuen Testament vertreten sind. Ungewöhnlich ist die Darstellung Christi als Gärtner. Maria Magdalena trifft ihn nach seiner Auferstehung mit einem typischen holländischen Gärtnerhut und einem Spaten an.
Mit etwas Glück trifft man in der Kapelle auf die Graue Dame. Dann sollte man aber nicht auf dem für sie reservierten Stuhl sitzen. Das mag sie gar nicht. Das berühmte Schlossgespenst ist der Geist von Lady Janet Douglas. Die Witwe des 6. Lord Glamis wurde von König James V. fälschlicherweise der Hexerei angeklagt und 1537 in Edinburgh lebendig verbrannt. Als Gespenst kehrte sie zurück und zeigt sich heute noch hin und wieder den Bewohnern und Besuchern.
Bevor wir die Königliche Wohnung erreichen, kommen wir bei der ehemaligen Bibliothek vorbei, die 1866 zum Billard-Zimmer sowie zu König Malcolms Zimmer umgebaut wurde. In Malcolms Zimmer befindet sich heute eine Ausstellung mit Lady Helen Middeltons gestickten Vorhängen für Himmelbetten und die Sammlung des Familienporzellans aus China.
Der schönste und gemütlichste Raum ist aber der Salon der Königin Mutter. Hier hat auch sie sich am wohlsten gefühlt, was man an der Einrichtung aus verschiedensten Möbeln und einem Kamin aus geschnitzter Eiche und holländischen Kacheln erkennt. Überall stehen Familienfotos in schwarz-weiß, aber auch in Farbe.
Überwältigt von den vielen Eindrücken wollen wir uns nach der Führung noch eine Kaffeepause in »the Hub«, dem kleinen Restaurant im Pavillon, gönnen. Ein Brite warnt uns vor dem fürchterlichen Kaffee. Wasser kann die Dame wohl heiß machen. So entscheiden wir uns für Tee und einen der vielen leckeren Kuchen, bei denen wir einige schöne Augenblicke der Führung nochmals Revue passieren lassen. Nach einem abschließenden, kurzen Spaziergang durch den Schlosspark geht es schließlich weiter nach Aberdeen ins Norwood Hall Hotel, wo wir dann selbst in den Genuss eines herrschaftlichen Interieurs kommen.