Am späten Nachmittag erreichen wir Schäßburg, das heutige Sighisoara. Wir scheinen eine gute Zeit für den Ort erwischt zu haben. Denn pünktlich zu unserer Ankunft leert sich der große Parkplatz in der Unterstadt. Bleibt die Frage, wie weit wir unser Gepäck schleppen wollen? Vielleicht gibt es ja bei unserem Hotel auch Möglichkeiten?
Stadtrundgang durch Schäßburg, dem heutigen Sighisoara. Ausblick vom Stundturm über das Zentrum der idyllischen Stadt in Siebenbürgen.
So schlängeln wir uns durch zusehends engere Gassen, bis wir schließlich vor dem Eingangstor des Hotel Villa Franca inmitten der Altstadt stehen. Lars fädelt das Auto vorsichtig, ohne irgendwo anzuecken, in die letztmögliche Lücke ein. Prima, zum Glück können wir das Gefährt jetzt bis morgen stehenlassen.
Bevor wir das Städtchen erkunden, wollen wir uns kurz frisch machen und checken erst einmal ein. Eine Viertelstunde sollte reichen, dann kann der Stadtrundgang beginnen. Doch wo bleibt nur meine Mutter? Die Zimmer im Hotel Villa Franca sind in mehrere, aneinander gewürfelte Altstadthäuser verteilt. Rita hat ihres in einem ganz anderen Bau als wir bezogen. Als ich sie suchen gehe, staune ich nicht schlecht.
Eine enge Stiege führt in einer Art Turm weit hinauf bis unters Dach. Augenblicklich wird mir klar, warum die Dame an der Rezeption keine Hilfe für den Koffer angeboten hat. Wahrscheinlich ist außer ihr niemand hier. Das ist schon ein bisschen frech für eine Hotelangestellte. Sie hätte zumindest etwas sagen können, sodass wir Rita zur Hilfe hätten eilen können. Egal, denn dafür wirken die Zimmer mit den großen Baldachin-Betten wie aus einer Puppenstube.
Puppenstube trifft zugleich das, was uns zu der verwinkelten Altstadt von Sighisoara, dem schönen Schäßburg, einfällt: eng aneinander gereihte, windschiefe und mit Geranien geschmückte Häuschen, Türmchen und Tore, umringt von einer mächtigen Stadtmauer. Schön ist das mittelalterliche Pflaster, welches so manch eine Frau in ihren Stöckelschuhen jedweder Eleganz beraubt. Wir spazieren durch den mächtigen Stundturm und betreten eine der schönsten Burgen Europas, die noch immer bewohnt ist. So steht auch sie seit 1999 auf der Liste des UNESCO Weltkulturerbes.
Bei unserer Ankunft wird der Stundturm gerade von einer Schulklasse überrannt. Es empfiehlt sich, die Aussicht über die Dächer von Schäßburg auf morgen früh zu verschieben. Allgemein herrscht rund um den Turm sowie auch auf dem großen Marktplatz reger Betrieb. Natürlich bringen viele Besucher Schäßburg mit Dracula in Verbindung. In der Zeit zwischen 1431 und 1436 soll der walachische Fürst Vlad II. Dracul in der Stadt im Exil gelebt haben. In jener Zeit müsste der kleine »Pfähler« Vlad Tepes in einem eher unscheinbaren, orangen Eckhaus auf die Welt gekommen sein. Genaues weiß jedoch keiner.
Wenn es um die Vermarktung geht, ist sich das heute in dem Bau eingerichtete Restaurant jedoch sicher, dass ein Geburtszimmer Draculas viele Besucher nach sich zieht. Wir überlegen kurz, hier am Abend so richtig touristisch Essen zu gehen. Jedoch steht im Schankraum die Luft dermaßen, dass wir uns Besseres vorstellen können und von einer Reservierung absehen. Vermarkten wollte man vor einigen Jahren außerdem einen Teil der Stadt, in dem ein Dracula-Vergnügungspark entstehen sollte. Doch die UNESCO, Prinz Charles und sonstige Freunde der altsächsischen Kultur standen dem Projekt kritisch gegenüber. Am Ende wurden die Pläne eingestampft, was vielleicht ganz gut ist.
Wir spazieren zum Entchen-Markt, einem Platz, auf dem während des Mittelalters Markt gehalten wurde. Was auch sonst? Wahrscheinlich wurden hier Enten verkauft. Leider wird dieser während unseres Aufenthalts saniert. Es sieht so aus, als würde das grobe Flusskiesel-Pflaster gegen Fußgänger freundlicheres, flaches Natursteinpflaster ausgetauscht. Womöglich hatte man es zu gut gemeint, als die Oberstadt bei einem früheren Sanierungsprojekt nach historischem Vorbild gepflastert wurde.
Die Bürger zeigten damals wenig Begeisterung. Wir selbst erreichen über den Platz den leicht versteckten Durchgang zur Festungsanlage mit dem Gerber- und dem Zinngießer-Turm. Gut zu erkennen sind die Einschusslöcher, die der Zinngießer-Turm bei einem Kugelhagel abbekommen hat. Ja, Schäßburg wurde nicht nur von der Pest heimgesucht, sondern war auch wiederholt das Ziel kriegerischer Angriffe.
Zurück beim Burgplatz führt die überdachte Scara Scolarilor, die Schülertreppe, hinauf auf den Schulberg zur Bergschule. 1654 ließ der Bürgermeister die Holzkonstruktion über die mehr als 175 Stufen errichten, um die Schüler bei Schnee- und Eisglätte vor Knochenbrüchen zu schützen. Bis dato befindet sich auf dem Berg das deutsch-rumänische Gymnasium, welches heute nach seinem ehemaligen Rektor und Märchensammler Joseph Haltrich benannt ist.
Den Gipfel des 429 Meter hohen Schulberges krönt die dem Heiligen Nikolaus geweihte Bergkirche. Als eines der Wahrzeichen Schäßburgs ist sie bereits von Weitem sichtbar. Hier wird es nun etwas gruselig.
Denn die Bergkirche ist die einzige Kirche Siebenbürgens mit einer erhaltenen Krypta unter dem Chor. Diese stammt noch aus den alten Gemäuern des Vorgängerbaus, auf denen die heutige Kirche steht.
Bergkirche von Schäßburg
Bis 1815 fanden bedeutende Schäßburger, wie der Pfarrer oder wohlhabende Bürger, in den Sargnischen ihre letzte Ruhestätte. Die Gebeine und Sargreste waren bis in die 1990er Jahre sichtbar. Bei Restaurierungsarbeiten hatte man diese jedoch entfernt und anständig beigesetzt. Die meisten Nischen zum Mittelgang sind seitdem zugemauert. Bis auf zwei, in denen die Särge heute mit schaurigem Licht beleuchtet werden.
Über die Strada Scarii können wir die Treppe hinab in die Stadt umgehen und haben immer wieder schöne Ausblicke über die Dächer der Oberstadt. Der Fleischer-, Kürschner-, Schneider- und Schusterturm sind für heute die letzten Bauwerke der Festungsanlage, die wir uns anschauen.
Einige der Türme werden für Ausstellungen genutzt. Und wenn man Glück hat, sind diese am späten Nachmittag noch geöffnet. An den Namen der Türme ist zu erkennen, dass Handwerk und Handel mit ihren Zünften das wirtschaftliche Fundament der Stadt bildeten.
Eindrücke von Sighisoara - Schäßburg
Anstatt einem Handwerk suchen wir jedoch etwas Kulinarisches und werden ganz nah bei unserem Hotel in einer Pizzeria mit schönem Innenhof fündig. Dort ist es ruhig und die Pizza lecker. So können wir den Abend mit rumänischem Rotwein ausklingen lassen, bevor wir zurück zum Hotel Villa Franca spazieren. Sighisoara ist ein sehr übersichtlicher Ort, weshalb wir hier nur eine Nacht verbringen. Am nächsten Morgen wird also nach einem sehr guten Frühstück im Hotel ausgecheckt.
Und damit meine Mutter den Koffer nicht auch noch die steilen Treppen hinab schleppen muss, beauftragen wir diesmal das Personal damit. Dass diese dann jemanden hinauf schicken, der an einer Bewegungsstörung leidet, erkennen wir erst, als er mit dem Koffer an der Rezeption auftaucht. Wie der Empfang erhält damit auch der Abschied einen Hauch von Dreistigkeit. Aber egal, wir starten unseren zweiten Stadtrundgang und holen den Besuch des Stundturms nach.
Über die breite Treppe in den Festungsmauern gelangen wir wieder zur Oberstadt. Wieder stolzieren Frauen mit hohen Absätzen mühsam über das Pflaster. Dabei wurde 1844 seitlich ein überdachter Holzgang gebaut. Er sollte im Winter den Aufstieg in die Oberstadt erleichtern.
Sein Bodenbelag ist schön eben. Blöd nur, dass der Gang Altfrauengang genannt wird und ihn viele genau deshalb lieber meiden. Bei unserem zweiten Rundgang steht keine Schlange vor dem Eingang des Stundturm, der bereits geöffnet ist. Es ist Zeit zum Aussicht genießen.
Der 64 Meter hohe Stundturm gehört zu den Befestigungen, welche die Siebenbürger Sachsen angesichts der wachsenden Türkengefahr errichtet hatten. Leider brannte dieser beim großen Stadtbrand von 1676 nieder. Doch er wurde wieder aufgebaut und diente mal als Gefängnis und Folterkammer, dann als Stadtarchiv oder auch mal als Rathaus. Wie beim Trompeterturm in Medias, wird das Barockdach von vier Ecktürmchen geziert, welche die Hochgerichtsbarkeit der Stadt symbolisierten.
Direkt darunter befindet sich der Wehrgang, von dem wir nun über die Dächer der Stadt blicken. Heute ist Christi Himmelfahrt und zudem der Beginn der großen Ferien in Rumänien. Von hier oben können wir beobachten, wie die verschiedenen Schulen grüne, blaue oder orangene Luftballons aufsteigen lassen. Angeführt von einem Spielmannszug, strömen die Massen an Schülern und deren Eltern in die Oberstadt, wo ein Fest mit viel Freude stattfinden wird.
In den Deckbalken der Brüstung sind auf Metallplatten die Städtenamen und Entfernungen von Baden-Baden, Dinkelsbühl, Neu-Isenburg, Zürich, New York oder von solchen Zungenbrechern wie Kiskunfélegyháza angebracht. Naja, ob die Richtung der Pfeile immer genau stimmt? Zum Geschichtsmuseum, das sich im Turm befindet, passt auch die Tafel mit den Niederschlagsmengen von Schäßburg aus den Jahren 1856 bis 1915. Und natürlich die Turmuhr mit ihren sieben Holzfiguren. Die Kammern des Turms schließlich beherbergen Utensilien der Schäßburger Handwerkszünfte und der mittelalterlichen Apotheken. Manche Sachen wirken dabei ganz schön gruselig.
Gruselig ist es auch in der Folterkammer, die sich im Durchgang des Stundturms befindet. Gerade verlässt eine Schulklasse das düstere Gemäuer. Als wir den Raum der Folterer betreten, wundern wir uns, wie diese vielen Kinder einen Moment zuvor hier Platz gefunden haben. Die Instrumente ähneln derer aus anderen Burgen, die wir besucht haben.
Menschliche Grausamkeiten verbreiten sich gerne um die ganze Welt und machen auch vor Siebenbürgen nicht halt. Wir indes haben viel von Schäßburg oder Sighisoara gesehen und sind ganz angetan von dem angenehmen und hübschen Städtchen. Dann aber heißt es Abschied nehmen, es steht noch einiges auf dem Programm.