Kaum ist der Koffer im Hotel Ca’ del Nobile verstaut, brechen wir auch schon zum Dogenpalast am Markusplatz auf. Ursprünglich wollten wir auf Museumsbesuche verzichten. Vielmehr wollten wir die zwei Tage in der Lagunenstadt nutzen, um schöne Eindrücke in den engen Gassen zu sammeln und uns bei Gelegenheit eine Gondeltour zu gönnen.
Nun stehen wir auf dem riesigen Platz. Vor uns ragt die Campanile des Markusdoms in die Höhe und wirft ihren Schatten auf das ehemalige zentrale Staatsheiligtums der Republik Venedig. Vor der Kirche tummeln sich jede Menge Menschen. Wir halten uns an die Loggia des Dogenpalastes. Hier ist es einiges ruhiger.
Kaum sind wir um die Ecke gelaufen, da stehen wir vor dem Eingang des Palastes. Kaum eine Handvoll Leute will das Gebäude besuchen. Dabei ist der Palast eine der meistbesuchten Attraktionen in ganz Italien. »Wollen wir uns eine Runde durch den Dogenpalast gönnen?«, fragt Lars.
Klar, wenn man schon mal so leicht hineinkommt. Kurz darauf stehen wir im Innenhof des Palazzo Ducale, der Verkörperung des venezianischen Staates, in all seiner Macht, Kraft und Schönheit. Hier lebten und regierte die Dogen der einstigen See- und Wirtschaftsmacht.
Der Dogenpalast gehört zu den Glanzwerken der venezianischen Baukunst. Nach dem Eintritt gilt es jedoch, sich zunächst einmal zu orientieren. Das gotische Bauwerk besteht aus mehreren Flügeln, die über einen Rundgang zu besichtigen sind. Normalerweise braucht man bloß der Masse zu folgen. Da diese fehlt, müssen wir uns auf die Suche nach dem Start des Rundgangs machen.
Und kaum ist dieser gefunden, wollen sie uns auch schon den Fotorucksack wegnehmen. Rucksäcke und Taschen sind im Dogenpalast nicht erlaubt. Diese können bei der Garderobe kostenlos abgegeben werden. Fotogepäck hingegen darf mitgenommen werden. Das macht Sinn, denn Venedig ist ein teures Pflaster für Tagestouristen. Viele nehmen deshalb Proviant mit, den man nicht unbedingt durch den Palast schleppen sollte.
Der Innenhof des Palazzo Ducale stand der Bevölkerung lange Zeit offen. Es war der Ort für Amtshandlungen. Hier fanden Versammlungen, Feste, Turniere und die Krönungen der Dogen statt. Einmal im Jahr war es außerdem der Ausführungsort einer Stierhatz. Im Hof stehen zwei Brunnenbecken. Darunter verborgen liegen mehrere Zisternen, welche der Wasserversorgung des Palastes und der Bevölkerung dienten. Wir steigen die Treppen hinauf und gelangen so in die oberen Stockwerke.
Hier befanden sich die Ämter verschiedener Magistrate, den venezianischen Behörden. An den Wänden sind mehrere »Löwenmäuler« eingelassen. Dabei handelt es sich um die Briefkästen der Denunzianten. Hier konnten Anzeigen oder Veruntreuungen schriftlich eingeworfen werden. Der jeweilige Zettel landete beim zuständigen Beamten, der die Beschwerde eingehend zu prüfen hatte. So stapelten sich die Anzeigen, erreichten aber nur selten die Regierung. Es gibt Dinge, die waren schon immer so und ändern sich nie.
Dann beginnt der lange Rundgang durch die Staatsräume des Palazzo. Hier vollzog sich auf höchster Ebene das politische und administrative Leben. Die Adligen verwalteten den Staat, wobei niemand deren Fähigkeiten und Rechte in Frage stellte. Das durch den Markuslöwen verkörperte Regime genoss große Popularität und nährte im Dogenpalast seinen eigenen Mythos. Die Stadt konnte sämtlichen Zeiten trotzen und so einen sozialen Frieden garantieren. Ab dem 14. Jahrhundert kannte Venezia keinerlei Tumulte oder Aufstände mehr.
Die Selbstdarstellung und Propaganda der venezianischen Republik spiegelt sich im Interieur wider. Große Künstler und Maler verewigten sich in den Räumen und Sälen. Mit aufwendigem Stuck, vergoldeten Schnitzereien und Historiengemälden überlieferten sie der Nachwelt den vergangenen Glanz und Ruhm der Lagunenstadt. Besonders beeindruckend ist die Sala del Consiglio dei Dieci, der Saal des Zehnerrats. Aufgrund einer Verschwörung abtrünniger Adliger, wurde im Jahr 1310 der Zehnerrat gegründet.
Als zeitlich begrenztes Organ sollte er die Verschwörer verurteilen. Dabei erwies sich der Zehnerrat als äußerst nützlich. Vor neuen Verschwörungen ist schließlich niemand gefeit. So blieb das Organ bestehen. Ihm oblag die Überwachung und Staatssicherheit. Als Macht der Justiz war es wachsam und unnachgiebig. Und das stets zu Diensten der dominierenden Oligarchie. Der Zehnerrat fällte Urteile in kürzester Zeit, und dies obendrein geheim.
In der Sala del Consiglio dei Dieci sind die Deckengemälde besonders prächtig. In 25 Teilen wird die Macht des Rates dargestellt. Seine Aufgabe war es, Verbrechen zu ahnden und Unschuldige zu befreien. Im zentralen Oval finden wir ein Bild Jupiters, der seine Blitze gegen die Laster schleudert. Auch Napoleon Bonaparte war von dem Gemälde begeistert. Als Ausdruck seiner Anerkennung nahm er das Original an sich und verwahrte es sicher im Pariser Louvre.
In der Sala della Bussola erwarteten die Angeklagten ihr Urteil. Hier ist ein weiteres Löwenmaul in die Wand gearbeitet. Wer sein Gewissen um eine letzte Denunziation erleichtern wollte, konnte diese hier anonym erledigen.
Durch den Saal erreichen wir die Palast-Waffenkammer. In mehreren Räumen sind Rüstungen, Säbel, Flinten und sonstiges Kriegsgedöns ausgestellt. Daneben lohnt sich hier ein Blick aus dem Fenster in die Lagune von Venedig.
Der Saal des Großen Rates, die Sala del Maggior Consiglio, ist mit 54 Metern Länge der größte Saal des Dogenpalastes. Hier gehen die Fenster sowohl zum Innenhof als auch auf die Lagune hinaus. Die Statiker des Palastes vollbrachten eine Glanzleistung.
Es soll nämlich der größte ungestützte Saal Europas sein. Eine komplette Wandbreite wird vom »Paradies« eingenommen, einem der größten Ölgemälde der Welt. Zugleich ist der Saal ein guter Platz, um kurz durchzuschnaufen, bevor es weiter zur Seufzerbrücke geht.
Aus den Fenstern der Sala Quarantia Criminale ist es möglich, die Seufzerbrücke mit ein paar Verrenkungen aus nächster Nähe zu sehen. Die weiße Kalksteinbrücke verbindet den Dogenpalast mit dem neuen Gefängnis, dem Prigioni nuove. Sie spannt sich über den acht Meter breiten Rio di Palazzo. Die Brücke ist aufgeteilt in zwei Gänge.
Durch den einen Gang wurden die Gefangenen dem Gericht vorgeführt. Durch den anderen wurden sie abgeführt, entweder zum Schafott oder um ihre Haftstrafe abzusitzen. Dies bescherte ihr den Namen Ponte dei Sospiri, die Seufzerbrücke. Durch die Gitterfenster konnten die Gefangenen einen letzten Blick auf die Lagune werfen. Dabei seufzten sie schweren Herzens.
Ein schöner Mythos hingegen richtet sich an verliebte Paare. Wenn sie sich bei Sonnenuntergang, in einer traditionellen Gondel, unter der Brücke küssen, besiegeln sie auf ewig ihre Liebe. Dahinter verbirgt sich womöglich ein Werbegag der Gondolieri.
Aber sei es drum. Als wir durch die Gitter der Seufzerbrücke hinausschauen, fährt gerade eine Riesengondel mit eigenem Klavierflügel unter der Ponte della Paglia hindurch. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Die Gefängniszellen im Dogenpalast waren Staatsgefangenen und Hochverrätern vorbehalten. Der heute bekannteste Insasse war Giacomo Casanova. Der venezianische Schriftsteller, Abenteurer und Schürzenjäger landete nach seiner Verhaftung in den Bleikammern des Palastes. Was ihm genau vorgeworfen wurde, ist bis heute unklar. Zugleich ist es irrelevant. Denn Casanova gelang eine höchst abenteuerliche Flucht durch ein Loch im Dach.
Wir haben uns den Dogenpalast kleiner vorgestellt. Die Zeit vergeht wie nichts. Nach fast zwei Stunden erreichen wir die Scala dei Giganti mit den zwei nackten Männerhintern der römischen Götter Mars und Neptun. Die »Treppe der Giganten« hat ihren Namen diesen beiden kolossalen Skulpturen zu verdanken. Sie führt zum Ausgang. Hinabsteigen dürfen wir jedoch nicht, sondern müssen einen Umweg nehmen.
Erst danach können wir von unten den Göttern ins Gesicht sehen. Über ihnen schwebt der Markuslöwe, das Symbol der Republik Venedig. Mit diesem letzten Eindruck verlassen wir den Dogenpalast durch die Porta della Carta. Es ist Zeit, noch ein wenig die Abendsonne in der Lagunenstadt zu genießen.