Eine Straße vor dem Warschauer Getto musste ich Annette mitsamt einer Grippe leider in eine Apotheke schleppen. Anders als bei uns steht hier alles hinter Glas, ganz gleich ob verschreibungspflichtiges Medikament, Heftpflaster oder Traubenzucker. Das gewünschte Nasenspray konnte Annette dank der alten Packung bzw. dem darauf genannten Wirkstoff tatsächlich noch leicht bekommen. Schwieriger gestaltete sich da schon der Kauf vom Grippostad. Dieses stand zwar im Regal, allerdings haben wir keine Ahnung, wie »Grippostad« auf Polnisch ausgesprochen wird. Die nette Frau jedenfalls wollte uns alles Mögliche aus dem Regal geben, bis sie schließlich ein netter älterer Herr dirigierte.
380.000 Juden lebten bis September 1939 in Warschau, das heißt: fast jeder dritte Stadtbewohner war jüdischer Abstammung und Warschau damit das größte jüdische Zentrum Europas. Nach Einmarsch der Wehrmacht mussten die Juden, ihres Eigentums und Einkommensquelle beraubt, aus ihren Stadtteilen in die beiden, insgesamt vier Quadratkilometer großen Gettos der Stadt umziehen.
Als sich die drei Meter hohen Mauern am 16. November 1940 schlossen, fristeten hier 450.000 Juden ein klägliches Dasein. Ihre einzige Möglichkeit, einen Blick auf die Welt außerhalb des Gettos zu werfen, war eine schmale Brücke, die das »Kleine Getto« mit dem »Großen Getto« verband. Eine weitere, weitaus gefährlichere Möglichkeit, von außen etwas mitzubekommen, war eine Straßenbahnlinie, die durch das Warschauer Getto verlief und aus der die Fahrer den Juden etwas zuwarfen.
Nachdem die Grenzen des Gettos bis zum April 1943 immer enger gezogen wurden und am Schluss nur noch wenige Straßenzüge als »Lebensraum« verblieben, erhoben sich die Juden zu einem verzweifelten Aufstand. Wie ihre Chancen standen, sich ihres Schicksals zu erwehren, zeigt schon allein die Essensverteilung: so wurden den Juden nur 184 Kalorien am Tag zugestanden, während die Deutschen auf 2613 Kalorien pro Tag kamen. Ein Monat nach Beginn der Kämpfe wurde das gesamte Getto zerstört, die letzten Bewohner mit Flammenwerfern ausgebrannt.
Im großen Getto wurde alles platt gemacht und später selbst die Straßenführung geändert. Das Kleine Getto war 1943 längst nicht mehr Teil des abgesperrten Areals. Dort stoßen wir in der Straße »Prózna« auf einen Straßenzug, dessen Fassaden von Gewehreinschüssen übersät sind. Holzüberdachungen schützen heute vor herabfallendem Steinschlag. Uns scheint es kaum möglich, dass sich trotz der grässlichen Vergangenheit Handwerksbetriebe und Läden in dieser Straße ansiedelten. Am anderen Ende der Straße soll sich ein kleiner Rest der alten Gettomauer befinden. Wo genau, das haben wir nicht herausgefunden. Denn die vielen neuen Häuser und fehlenden Hinweisschilder erschweren die Suche nach den letzten kleinen Zeugnissen dieser schlimmen Zeit enorm.