Hinter der kleinen Festung Barbakane beginnt die Warschauer Neustadt. Diese ist Ende 14., Anfang 15. Jahrhunderts entstanden und gehört seit 1972 zum alten Teil Warschaus sowie - mit Öffnung der Grenzen - seit einigen Jahren ebenso zum touristischen Zentrum der Stadt. Die Straßen sind hier ein gutes Stück breiter als die engen Gassen der Altstadt und bieten damit Platz für zahlreiche Straßencafés und Restaurants. Bevor einem der Duft der zahlreichen Speisen in die Nase steigt, muss man es zunächst schaffen, erstmal heile in die Neustadt zu kommen.
Denn während wir uns wenige Meter hinter der Barbakane einen kleinen Blumenladen anschauen, vor dem ein winziges Auto - zum Warenlager umgebaut - steht, werde ich von der anderen Seite plötzlich am Arm gepackt. Mir schwant Schlimmes. Und Tatsache: ich bin in die Fänge der Warschauer Henker geraten. Weder Betteln noch Flehen kann sie davon abbringen, mich zu einem Hauklotz zu führen. Bedrohlich schwingen sie dabei eine gewaltige Axt und fordern von Annette ein fettes Lösegeld. Andernfalls... aber da möchte ich gar nicht drüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Annette nicht im letzten Augenblick ein paar Zloty gefunden hätte.
Nach so einem Schreck gönnen wir uns erstmal eine Henkersmahlzeit. Als ersten Vorteil der Neustadt erkennen wir, dass die Restaurants hier einiges billiger als auf dem Altmarktplatz sind. Auf dem Weg durch die Freta-Straße (klingt ja schon fast wie »Fress-Straße«) kommen wir am Geburtshaus von Marie Curie vorbei und finden an der Ecke zum Platz »Rynek Nowego Mistra« die »Boruta Bar«. Das Besondere der Bar sind übrigens nicht die bereits aus der Ferne sichtbaren Nescafé-Schirme, sondern die Bänke, die zusammen mit dem Tisch eine Schaukel bilden.
Witzig: während die Leute auf ihr Essen warten, wippen sie fast ausnahmslos mit dem Tisch hin und her. Seltsam: obwohl wir bei unseren zwei Besuchen an wenigstens drei verschiedenen Tischen saßen, erwischten wir immer die Schaukel, die von allen am stärksten quietschte. Und Lecker: die Pizza Warschau. Wer sich jetzt eine Pizza im herkömmlichen Stil vorstellt, könnte allerdings enttäuscht sein. Denn - wie mir später eine polnische Studentengruppe bestätigte - vermischen die Warschauer alle Zutaten mit dem Teig und quetschen nach dem Backen circa eine Viertel Tube Ketchup darüber aus.
Das touristische Zentrum von Warschau ist nicht sonderlich groß. Wer sich weniger für die Museen und Kunstgalerien interessiert, sondern lieber das Ambiente der polnischen Metropole genießt, kommt daher immer wieder mal durch die »Freta« mit ihren kleinen, teils sogar winzigen Restaurants.
Dabei bleibt es nicht aus, dass der Appetit mit jedem Schritt wächst bis sich die Füße irgendwann nach dem laut knurrenden Magen richten, also schnurstracks in die nächste Wirtschaft führen.
Eigentlich wollten wir ja ein wenig das Treiben auf der Straße beobachten, als wir in einer nur wenige Tische großen griechischen Taverne Platz nahmen. Ein kühler Wind und aufziehender Regen trieb uns aber bald ins Innere des Lokals, das durch seinen schmalen Gang zum offen gestalteten Essenraum wie eine kleine Höhle wirkt. Ein warmes Licht, in orange gestrichene Wände und die Kerze auf unserem Tisch sorgen für eine angenehme Atmosphäre. Auch wenn wir leider nicht mehr wissen, wie das Restaurant heißt, der Besuch war so angenehm und das Essen inklusive Dessert so lecker, dass wir am liebsten gleich bis zum Abend sitzen geblieben wären.
Hochmodern erstreckt sich der grünbläulich schimmernde Gerichtskomplex entlang der Swietojerska in die Höhe und überspannt die Miodowa, welche direkt durch das Gebäude hindurchführt. Das zugleich modern und klassizistisch wirkende Gebäude dient seit 1999 als Sitz des Obersten Gerichts Polens, allerdings ohne sonderlich einladend, geschweige denn vertrauens- erweckend zu wirken.
Entlang der Gedenkmauer kommen wir auf die Rückseite des Traktes, der dem Besucher eine kleine Überraschung offenbart. Besser gesagt: große Überraschung, denn hier stützen drei überdimensional große Skulpturen nicht nur Eckpfeiler des Gerichts, sondern symbolisieren zugleich die Hoffnung, den Glauben und die Liebe.
Bei einsetzender Dämmerung kommen wir zurück an die Miodowa und erblicken - gegenüber dem großen Gebäudeflügel des Gerichts - den Krasinskich Palast. Er gilt als der prächtigste barocke Bau Warschaus und beherbergt in seinem Innern Landkarten, Grafiken und kostbare Bücher der Nationalbibliothek. Für uns jedoch ist der Palast eigentlich nur am Rande unseres Weges schön anzusehen, bevor weiter zum Platz des Krasinskichs gehen.
Am Krasinskich-Platz angekommen, entdecken wir wieder Blumen und Kerzen. Wie mit den Lichtern am Umschlagplatz, gedenken die Warschauer Bürger auch hier der vielen Opfer während der Besatzungszeit. Genauer: den Kämpfern des Warschauer Aufstands 1944. Wie ihre Chancen waren, sich gegen die eigentlich schon geschwächte Wehrmacht zu behaupten, lässt sich am besten am Verhalten Stalins erkennen. Denn obwohl er die deutschen Truppen bereits bis Warschau zurückdrängen konnte, befahl er seinen Soldaten, in die Kämpfe nicht einzugreifen. Mehr noch: verhinderten die Russen Landungen der westalliierten Flugzeugverbände, sodass die Warschauer ganz auf sich allein gestellt waren.
Erklären lässt sich dies damit, dass Stalin kein Interesse an ein freies, unabhängiges Polen hatte. Auch wenn sich die Bürger am 1. August 1944 gegen die Deutschen erhoben, galt der politische Kampf Stalin. Das - mit Ausnahme des jüdischen Gettos - von den Kriegswirren weitgehend verschonte Warschau ließ Hitler nach der Kapitulation der Widerstandskämpfer am 2. Oktober systematisch Straße für Straße, Haus für Haus sprengen beziehungsweise niederbrennen.