Am frühen Nachmittag brechen wir auf, zu einer Herde Blutbrustpaviane in den Simien Nationalpark auf. Da das Gepäck im Hotel bleibt, sollte im Bus eigentlich mehr Raum als bei der langen Fahrt sein. Tatsächlich aber wird dieser von drei Männern beansprucht, die ganz hinten im Bus Platz nehmen. Da sie Gewehre tragen, gehen ein paar Frauen unserer Gruppe lieber auf Abstand zu ihnen. Uns lässt es hingegen kalt. Schließlich haben wir bzw. Yitbarek die Männer dafür bezahlt, dass sie uns während des Ausflugs in den entlegenen Nationalpark begleiten.
Nach einer kurzen Fahrt auf der gut ausgebauten Hauptstraße von Debark biegen wir beim Markt auf rechts ab. Auf dem nächsten Stück rumpelt der Bus über eine ansteigende Straße von Schlagloch zu Schlagloch, passiert eine Häuserreihe und findet dann irgendwie auf die Straße, die hoch in den Park führt.
So wie die dicht bebauten Wohnviertel von Debark hinter uns liegen, fällt die Straße zunächst Richtung Süden ein Stück ab. Dann aber schwenkt sie nach Nordost und windet sich von Kurve zu Kurve weiter nach oben. Bald befinden wir uns 2.900, dann 3.000 und 3.100 Meter über dem Meer.
Nach etwa 50 Kilometer staubiger Schotterpiste halten wir nahe der Simien Lodge. Wir befinden uns auf gut 3.250 Meter über dem Meer. Und spüren das auch. In der dünnen Luft reicht ein kurzer Dauerlauf, um außer Atem zu kommen. Zudem fühlt sich alles etwas wacklig an.
Als wir uns beim Spaziergang über die eigentlich breite Straße zufällig anrempeln, liegen im nächsten Moment zwei, drei Meter zwischen uns, bevor unser Gleichgewichtssinn gegensteuert; und wir uns gleich ein zweites, nicht ganz so zufälliges Mal anrempeln.
Dann jedoch verlassen wir die Straße und ist Schluss mit Herumalbern. Denn auch wenn das Terrain relativ einfach aussieht, erfordert der unebene und mit stachligen Pflanzen bewachsene Grund doch ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Tatsächlich zieht sich unsere Gruppe auf wenigen Metern erstaunlich schnell in die Länge. Allein dadurch bekommen wir bei einer Geländekante reichlich Zeit, um den Blick über das Bergpanorama schweifen zu lassen, eh wir einen unserer Waffenträger ins Visier nehmen.
Von der Geländekante folgen wir dem Wanderweg anschließend durch einen lichten Wald. Gebildet wird dieser von einer auch auf den Azoren heimischen Erika-Art, die bis auf die Größe von Obstbäumen heranwächst. An den Zweigen hängen Flechten. Sie zeigen, dass die Luft frei von Schadstoffen und eher feucht ist. Der Blick in das tiefe Tal ist atemberaubend.
Die Simien Mountains zählen zu den besonderen Attraktionen Äthiopiens. Im Jahr 1966 begannen die Vorbereitungen zur Gründung eines Nationalparks. Drei Jahre später konnte dieser offiziell eröffnet werden. Auch die UNESCO erkannte den Wert dieser faszinierenden Bergregion Afrikas und erklärte den Nationalpark 1978 als einen der ersten Nationalparks weltweit zum Weltnaturerbe. Doch die schwierigen politischen Verhältnisse führten dazu, dass sich die notwendigen Schutzbemühungen kaum der Bevölkerung übermitteln ließen. Zeitweise musste der Park wegen des Bürgerkriegs geschlossen werden. Hunderte von Bauern besiedelten das Gebiet und rodeten die Wälder für ihre Viehwirtschaft. Wilderer setzten mit ihrer Jagd dem Wildtierbestand zu.
Insbesondere die ohnehin extrem kleine Population des Äthiopischen Steinbocks schrumpfte immer weiter. Ab 1996 stand der Nationalpark auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes. Die Parkverwaltung arbeitet inzwischen an einer Strategie für alternative, nachhaltigere Möglichkeiten zum Lebensunterhalt für die lokale Bevölkerung. Seither bessert sich der Naturschutz und erholt sich der Tierbestand. Im Jahr 2017 konnte der Simien Nationalpark wieder von der Roten Liste genommen werden. Wir durchqueren nun den Erika-Wald und kommen zu einer Art Handwerksmarkt. Es sind meist einfache Gegenstände für den Hausgebrauch wie Körbe und Topfuntersetzer. Vor Ort erfahren wir, dass diese von Studenten hergestellt werden, die den Erlös für ihre Ausbildung verwenden.
Kurz darauf entdecken wir ein paar hundert Meter vor uns die ersten Blutbrustpaviane. Leider ist schon eine andere Gruppe bei ihnen, sodass wir uns zunächst etwas gedulden müssen. Andernfalls kann es passieren, dass die gesamte Affenbande Reißaus nimmt, bevor wir auch nur in ihrer Nähe sind.
Umso erstaunter sind wir, als wir uns den Blutbrustpavianen wenig später bis auf ein paar Schritte nähern können. Offenbar sind die Tiere Menschen gewohnt. Und so lange sich alle ruhig verhalten, gehen sie ihrer gewohnten Tätigkeit nach: mit ihren Fingern den harten Boden nach essbaren Wurzeln umgraben.
Unter den wachsamen Augen unserer drei Waffenträger bleiben wir eine gute halbe Stunde bei den Affen. Das reicht, um einige Verhaltensweisen der Tiere zu beobachten. Neben der fürsorglichen Fellpflege, dem als Lausen bezeichneten Entfernen kleiner Hautschuppen, gehören dazu auch die ständig wiederkehrenden Streitereien der Halbstarken.
Seltener bekommen wir die Brust zu sehen, nach deren knallroten Farbe die Blutbrustpaviane benannt sind. Nur, wenn die Tiere ihre Nahrungssuche unterbrechen und sich aufrichten, ist der Brustbereich gut zu sehen. Für Fotografen gilt es hier, sich eine günstige Stelle zu suchen und ruhig zu verharren, bis die gewünschten Motive gemacht sind.
Außer den auch Dschelada genannten Affen leben eine Reihe weiterer endemischer Tierarten im Simien- bzw. Sämen-Nationalpark. Neben dem Äthiopischen Steinbock und dem Erzraben zählt dazu der Äthiopische Wolf. Er lebt in einer Höhe zwischen 3.000 und 4.400 Meter und ernährt sich hauptsächlich von Mäusen und Ratten.
Damit wäre er eigentlich nützlich für die Landwirtschaft. Leider aber ist der Wolf so scheu, dass sein Lebensraum durch den in immer höher gelegene Regionen vordringende Feldbau stark geschrumpft ist. Außerdem haben mehrere Tollwut-Epidemien den Populationen zugesetzt, sodass der Bestand bis 2010 auf rund 500 Tiere eingebrochen ist.
Eindrücke von der Landschaft in den Simien-Bergen und Aufnahmen von Blutbrustpavianen bei der Suche nach Nahrung im kargen Boden.
Beim Rückweg an die Straße steht die Sonne bereits tief und wird es augenblicklich kühler. Wer will, kann mit dem Bus hoch zur Simien Lodge, unserem nächsten Ziel, fahren. Wie die meisten Teilnehmer unserer Gruppe lehnen wir ab und nutzen die Gelegenheit für einen zweiten Spaziergang in den Bergen.
Bei der Lodge angekommen verkündet ein Schild stolz, dass die Simien Lodge das höchste Hotel von Afrika sei. Ob es stimmt? Schon möglich. Zumindest ist es mit 3260 Meter über dem Meer dem Himmel schon sehr nah und damit der ideale Ausgangspunkt für Touren in den Sämen- bzw. Simien Nationalpark.
Bei der Lodge steht dann die zweite Entscheidung an: drinnen oder draußen? Einerseits wäre es sicher schön, den späten Nachmittag auf der Sonnenterrasse zu erleben. Andererseits wollen wir keinen Sonnenbrand riskieren und kommt ein unangenehmer Wind auf. Also ab ins sonnen- und windgeschützte Innere der Lodge.
In der großzügig eingerichteten Bar lässt ein großer Rundkamin keinen Zweifel: hier oben werden die Nächte - insbesondere im Winter - empfindlich kalt. Daneben bietet die Theke eine große Auswahl internationaler Weine und Spirituosen an. Der Schriftzug darüber erklärt, dass es die höchste Bar in Afrika ist. Wer hätte das im höchsten Hotel Afrikas erwartet?
Tatsächlich würden wir gerne bleiben. Aufgrund der Abgeschiedenheit müssten wir in den zur Lodge gehörenden Tukuls zwar auf den ein oder anderen Luxus verzichten So verfügen die Zimmer nur über eine solarbetriebene Solarheizung, die nur dann gut funktioniert, wenn entsprechend viel Sonne scheint. Aber Verzicht müssen wir ja auch im Hotel Gaint Lobelia üben.
Um die Kälte fernzuhalten, sind alle Zimmer an den Decken, Wänden und Boden mit Glasfaserwolle isoliert. Dennoch wird schon auf der Homepage der Simien Lodge darauf hingewiesen, dass man warme Kleidung mitnehmen solle. Der Grund, warum wir nach dem kurzen Aufenthalt wieder zurück nach Debark fahren, ist jedoch die lange Fahrt am nächsten Morgen.